Chancengleichheit in der Bildung garantieren / Garantir l’égalité des chances dans la formation

Texte français ci-dessous

Soziale Ungleichheiten werden durch das Bildungssystem reproduziert. Der Wissensschaftsrat empfiehlt Massnahmen, um die Selektivität zu vermindern.

Will die Schweiz für «eine möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern»1 sorgen, so bedingt dies eine Unterstützung für Kleinkinder lange vor dem Schuleintritt. Denn die sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen des Elternhauses beeinflussen die Startchancen. Kinder privilegierter Eltern haben mehr schulrelevantes Vorwissen und höhere kognitive Kompetenzen, wie Rolf Becker und Jürg Schoch in ihrem Expertenbericht für den Schweizerischen Wissenschaftsrat (SWR) festhalten.2 Die Chancengleichheit solle richtungsweisend für frühkindliche Förderung sein, fordert daher der SWR. Es brauche sowohl kohärente nationale Leitlinien, an denen sich die Kantone orientieren können, als auch Strategien, damit die Frühförderung die vulnerablen Zielgruppen erreicht.3

Reproduktion von Ungleichheit an Übergängen

Wie Daten des Bundesamtes für Statistik und des Schweizer Bildungsberichtes 20184 zeigen, werden die Ungleichheiten durch das Bildungssystem nicht vermindert, sondern vielmehr reproduziert. Soziale Selektivität ist auf allen Stufen und an allen Übergängen zu beobachten.

Als besonders bedeutsam identifizieren die Expert*innen den Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I. Dabei findet eine erste Lenkung von Schulkindern aus unteren sozialen Schichten in Richtung Berufsausbildung statt. Später ist es schwierig, einen erfolgten Übergang zu revidieren.5 Gleichzeitig werden die nachobligatorischen Ausbildungsmöglichkeiten hochgradig durch den auf der Sekundarstufe I besuchten Schultyp festgelegt.

Am Ende der obligatorischen Schulzeit, beim Übergang in die Sekundarstufe II, zeigt sich, dass sich vor allem Kinder aus der Arbeiter- und der unteren Mittelschicht gegen das Gymnasium entscheiden.6 Sie nehmen die Berufsbildung als attraktiver, weniger anspruchsvoll und weniger riskant wahr.

Die soziale Selektivität entsteht durch das systematische Zusammenspiel von primären Herkunftseffekten (beispielsweise Sprachproblemen) und sekundären Herkunftseffekten (beispielsweise der Einschätzung der Kosten und des Nutzens von Bildungslaufbahnen). Sekundäre Herkunftseffekte kommen in Bildungssystemen mit einem breiten Angebot an Bildungswegen in besonderem Masse zur Geltung. Mit der Einführung der Fachhochschulen hat sich die soziale Selektivität auch im Hochschulbereich verschärft: Studienberechtigte aus unteren sozialen Schichten werden dadurch vom Universitätsstudium «abgelenkt» – auch solche mit guten Erfolgsaussichten.

Der SWR plädiert in seinen Empfehlungen nicht für eine «Akademisierung» der Schweizer Bildungslandschaft. Der Rat ist jedoch überzeugt, dass alle einen Bildungsweg gemäss der eigenen Leistungsfähigkeit wählen können sollten; die Wahl darf nicht durch Strukturen des Bildungssystems und leistungsfremde Kriterien vorbestimmt werden.

Massnahmen in den Kantonen

Der SWR empfiehlt, dass der Bund die Begleitforschung zu Massnahmen zur Verminderung sozialer Selektivität fördern und ein fortlaufendes Monitoring in Auftrag geben soll. Denn das Westschweizer und das Deutschschweizer Bildungssystem unterscheiden sich teilweise deutlich. So sind in der Romandie zum Beispiel die Auswahlverfahren stärker auf eine spätere Selektion ausgerichtet. Und manche Kantone weisen eine höhere Maturand*innenquote auf, während der Berufslehre eine geringere Bedeutung zukommt. Daher unterstreicht der SWR, dass zielführende Mass- nahmen auf die jeweiligen Besonderheiten auszurichten sind:

Mit der gezielten Sprachförderung sollten sozial benachteiligte Kinder – mit und ohne Migrationshintergrund – bei der Teilnahme am Unterricht unterstützt und so primäre Herkunftseffekte reduziert werden.

Da Lehrpersonen auf allen Stufen bei der Einstufung und Einschätzung des Potenzials von Schüler*innen eine Schlüsselrolle innehaben, sind sie in der Ausbildung für die Problematik der sozialen Selektivität zu sensibilisieren. So kann einer Aufrechterhaltung der sozialen Ungleichheit vorgebeugt werden.

Da die sekundären Herkunftseffekte an den Schulübergängen am schwersten wiegen, sollte ebenfalls eine Überprüfung der Anzahl und des Zeitpunkts der Übergänge sowie der Auswahlverfahren hinsichtlich sozialer Selektivität auf allen Stufen vorgenommen werden.

Der SWR führte bei der Erarbeitung des Berichts und der Empfehlungen zwei Workshops mit Fachleuten aus Forschung und Praxis durch. Dabei wurden neben staatlichen Interventionen auch freiwillige Privatinitiativen zur Förderung der Chancengerechtigkeit diskutiert. Solche haben häufig grossen Erfolg, sie sind jedoch meist lokal begrenzt und zu gering an der Zahl. Neben finanzieller Förderung bedürfen sie organisatorischer Unterstützung durch den Ausbau von kantonalen und überregionalen Netzwerken und Plattformen.

Die Ausnahmesituation im Frühling hat drastisch gezeigt, dass soziale Selektivität durch die (mangelnde) Ausstattung mit Computern weiter verschärft werden kann und welche Verantwortung dem Bildungssystem und vor allem den Übergängen zukommt. Sie hat aber auch an den Tag gebracht, dass es in der föderalistischen Schweiz möglich ist, voneinander zu lernen und Althergebrachtes zu verändern.

 

Fussnoten

1 Bundesverfassung vom 18. April 1999 (AS 1999 2556), Art. 2 Abs.3.

2 Schweizerischer Wissenschaftsrat (SWR) (2018). Soziale Selektivität, Empfehlungen des SWR, Expertenbericht von Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR. Bern. SWR. www.wissenschaftsrat.ch / Publikationen.

3 SWR (2019). Prise de position du Conseil suisse de la Consul- tation sur l’initiative parlementaire 17.142 Aebischer Matthias. Égalité des chances dès la naissance. Bern. SWR. www.wissen- schaftsrat.ch / Stellungnahmen. (Deutsch: Chancengerechtigkeit vor dem Kindergartenalter. Stellungnahme des SWR im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens.)

4 Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) (2018). Bildungsbericht Aarau. SKBF. www.skbf-csre.ch / Bildungsbericht.

5 Aufgrund der Herkunftseffekte erhöht die formal gegebene Durch- lässigkeit gar die soziale Selektivität. Siehe SWR (2018), 45.

6 Die Wahrscheinlichkeit, in ein Gymnasium einzutreten, ist für sehr talentierte Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Fami- lien nur etwa halb so gross wie für vergleichbare Jugendliche aus sozioökonomisch privilegierten Siehe SKBF (2018), S. 159.

 

Artikel erschienen in Sozial Aktuell, Ausgabe August 2020.

 


 

Garantir l’égalité des chances dans la formation

Les inégalités sociales sont reproduites par le système de formation. Le Conseil suisse de la science recommande des mesures afin d’atténuer la sélectivité sociale.

Si la Suisse souhaite « garantir une égalité des chances aussi grande que possible»1, il lui faut soutenir les jeunes enfants bien avant le début de l’école. Car les conditions sociales, culturelles et économiques pré sentes à la maison influencent les chances de départ. Comme le constatent Rolf Becker et Jürg Schoch dans leur rapport d’experts pour le Conseil suisse de la science (CSS), les enfants des parents plus privilégié·e·s possèdent plus de connaissances et de compétences cognitives utiles à l’école que les autres.2 Le CSS demande donc que l’égalité des chances soit le principe directeur du développement de la petite enfance. Il faudrait également des directives nationales cohérentes sur lesquelles les cantons puissent s’orienter, ainsi que des stratégies qui ciblent le soutien précoce des groupes de population vulnérables.3

Reproduction des inégalités lors des transitions de niveaux

Comme le montrent les données de l’Office fédéral de la statistique et du Rapport sur l’éducation en Suisse de 20184, les inégalités ne sont pas réduites par le système de formation, mais plutôt reproduites. La sélectivité sociale est constatée à tous les niveaux et à chaque transition entre les niveaux de formation.

Les expert·e·s ont identifié comme particulièrement décisive la transition entre l’école primaire et le degré secondaire I. Lors du passage au niveau secondaire I, on observe une première tendance des élèves de couches sociales inférieures en direction de la formation professionnelle.5 Par la suite, il est difficile de changer à nouveau de trajectoire après une transition réalisée.

En même temps, les possibilités de formation postobligatoires sont fortement définies par le type d’école fréquenté au degré secondaire I. À la fin de l’école obligatoire, lors du passage au degré secondaire II, il s’avère que les enfants de parents ouvrier·ère·s et de couche sociale moyenne inférieure renoncent au collège.6 Iels estiment qu’une formation professionnelle est plus attractive, moins exigeante et moins risquée.

Les capacités plutôt que les effets d’origine

La sélectivité sociale résulte d’une cohabitation systématique entre des effets d’origine primaires (par exemple des problèmes de langue) et des effets secondaires (par exemple l’évaluation des coûts et des bénéfices des parcours de formation). Les effets secondaires sont particulièrement évidents dans les systèmes de formation qui présentent une vaste offre de filières de formation. Avec l’introduction de hautes écoles spécialisées, la sélectivité sociale s’est également accentuée dans le domaine universitaire: les personnes issues des couches sociales inférieures qui pourraient accéder aux études sont ainsi « écartées» des études universitaires – même celles présentant de bonnes chances de réussite.

Dans ses recommandations, le CSS se prononce contre une « académisation» du paysage suisse de la formation. Le conseil est toutefois convaincu que chacun·e devrait pouvoir choisir son parcours de formation en fonction de ses capacités; le choix ne devrait pas être prédéfini par les structures du système de formation et des critères qui ne se réfèrent pas aux compétences.

 

Mesures au sein des cantons

Le CSS recommande à la Confédération d’accompagner l’étude de mesures pour éviter la sélectivité sociale et de commander un monitoring continu. Car les systèmes de formation de Suisse romande et de Suisse alémanique se différencient parfois nettement. Par exemple, en Suisse romande, le processus de sélection se fait généralement plus tard dans le parcours scolaire. Et certains cantons comptent un plus grand nombre de maturités délivrées, contre un nombre réduit d’apprentissages professionnels. C’est pourquoi le CSS souligne que des mesures ciblées doivent être introduites en fonction des particularités:

  • Avec une promotion ciblée de la langue, les enfants de milieux sociaux défavorisés – avec et sans origine migratoire – devraient être soutenu·e·s à l’école. Cela réduirait également l’effet d’origine primaire.
  • Le corps enseignant joue un rôle-clé à tous les niveaux pour la répartition et l’évaluation du potentiel des élèves. Sa formation devrait donc le sensibiliser à la problématique de la sélectivité Cela permettrait de prévenir la reproduction des inégalités sociales.
  • Étant donné que ce sont les effets secondaires qui ont le plus d’impact sur les transitions scolaires, il faudrait également vérifier le nombre et le moment des transitions ainsi que le processus de sélection au regard de la sélectivité sociale à tous les niveaux.

Davantage de coordination

Pour l’élaboration de son rapport et de ses recommandations, le CSS a conduit deux ateliers de réflexion avec des spécialistes de la recherche et de la pratique. Dans ce contexte, les discussions ont porté autant sur les interventions éta- tiques que sur les initiatives privées bénévoles pour promouvoir l’égalité des chances. Certaines rencontrent souvent un succès important, mais sont limitées au niveau local et pas assez nombreuses. Parallèlement à la promotion financière, elles ont besoin d’un soutien organisationnel par la mise en place de réseaux et de plateformes cantonales et nationales. La situation exceptionnelle de ce début d’année a brutalement montré que la sélectivité sociale peut être accentuée par l’équipement (manquant) d’ordinateurs et révélé la responsabilité du système de formation et en particulier des transitions. Mais elle a aussi dévoilé qu’il est possible, dans la Suisse fédérale, d’apprendre les un·e·s des autres et de changer d’anciennes traditions.

 

Notes

1 Constitution fédérale du 18 avril 1999 (RO 1999 2556), art. 2, al. 3.

2 Conseil suisse de la science (CSS) (2018). Soziale Selektivität, Empfehlungen des SWR, Expertenbericht von Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR. Berne. CSS. www.wissenschaftsrat.ch / Publications.

3 CSS (2019). Prise de position du Conseil suisse de la science. Consultation sur l’initiative parlementaire 142 Aebischer Matthias. Égalité des chances dès la naissance. Berne. CSS. www.wissenschafts- rat.ch / Prises de position. (Deutsch: Chancengerechtigkeit vor dem Kindergartenalter. Stellungnahme des SWR im Rahmen des Vernehm- lassungsverfahrens).

4 Centre suisse de coordination pour la recherche en éducation (CSRE) (2018). L’éducation en Suisse – Aarau. CSRE. www.skbf-csre. ch / L’éducation en Suisse, rapport.

5 En raison de l’effet d’origine, la perméabilité formelle existante augmente même la sélectivité Voir CSS (2018), p. 45.

6 La probabilité de rentrer au collège pour les jeunes très talentueux·- euses, mais d’origine modeste, est environ deux fois moins élevée que pour les jeunes doué·e·s de talents équivalents mais issu·e·s d’un mi- lieu socioéconomique privilégié. Voir CSRE (2018), 160.

 

Ce texte a été publié dans „Sozial Aktuell“ en août 2020.