Christiane Pauli-Magnus: «Die Pandemie hat die Wichtigkeit klinischer Studien aufgezeigt».

Christiane Pauli-Magnus ist seit 2020 Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats SWR. Sie ist Co-Leiterin des Departements Klinische Forschung am Universitätsspital und der Universität Basel und seit 2017 Präsidentin der Swiss Clinical Trial Organisation.1

Christiane Pauli-Magnus, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit klinischen Studien. Können Sie uns anhand der Corona-Pandemie deren Bedeutung erläutern?

Die Pandemie hat eindrücklich die Wichtigkeit prospektiver klinischer Studien aufgezeigt. Prospektiv bedeutet, dass man sich nicht einfach auf bereits vorhandene Daten von Patientinnen und Patienten verlässt, sondern neue Behandlungsmethoden oder Therapien zielgerichtet auf ihre Wirksamkeit überprüft. Ein Beispiel ist das Medikament Hydroxychloroquin, das gegen Malaria und Rheuma verwendet wird. Es gab gute Gründe anzunehmen, dass der Wirkstoff auch zur Therapie von Covid-19 taugen würde. Diese Hypothese wurde anhand von klinischen Studien überprüft und man ist zum Schluss gekommen, dass Hydroxychloroquin gegen Corona nicht nur nicht wirkt, sondern sogar zu einer erhöhten Sterblichkeit führt. Auch bei der Impfung waren klinische Studien für den Nachweis der Wirkung und die Akzeptanz in der Bevölkerung entscheidend.

Die klinische Forschung beschäftigt sich aber keineswegs nur mit Medikamenten oder Impfungen. Mittlerweile bestimmen prospektive Datensammlungen den grösseren Teil unserer Arbeit. Hier verfolgen wir über mehrere Jahre Patientengruppen mit bestimmten Krankheitsbildern wie Multiple Sklerose, Schlaganfall etc. Diese Daten liefern die Grundlage für die Beantwortung vieler Fragen.

Klinische Studien sind für die Medizin also von grösster Bedeutung. Mit unserer angewandten Ausrichtung haben wir allerdings manchmal Mühe, an Drittmittel zu kommen. Der Fokus der grossen öffentlichen Geldgeber liegt nämlich oft auf der reinen Grundlagenforschung. Positiv ist, dass der Schweizerische Nationalfonds SNF mittlerweile ein eigenes Programm für klinische Studien ins Leben gerufen hat.

Klinische Studien an Menschen bringen doch aber auch ethische Herausforderungen mit sich, wenn etwa Medikamente an Probandinnen und Probanden in Schwellen- oder Drittweltländern geprüft werden.

Solche ethischen Dilemmata gibt es tatsächlich. Am Universitätsspital Basel führen wir die meisten Studien allerdings in der Schweiz oder in benachbarten Ländern durch. Bei grösseren Projekten, bei denen dann häufig auch Firmen involviert sind, kann es vorkommen, dass aussereuropäische Staaten involviert sind. Werden klinische Studien in Schwellen- oder Drittweltländern durchgeführt, so ist es heute Standard, dass die geprüften Therapien für die dortige Bevölkerung von Nutzen sind. Das Schweizerische Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) sucht beispielsweise für afrikanische Länder mittels klinischer Studien nach Therapien, die auf die Bedürfnisse der jeweiligen Bevölkerung zugeschnitten sind.

Alter und Geschlecht sind weitere Faktoren, die berücksichtigt werden müssen. Lange Zeit hat man für Studien den Fokus auf gesunde Männer gelegt. Dies auch in der Absicht, Frauen und Kinder zu «schützen». Die Folge war, dass Medikamente und Therapien zugelassen wurden, deren Wirksamkeit und Nebenwirkungen nur für einen Teil der Bevölkerung überprüft worden waren. Vor allem für Kinder hatte das negative Folgen. Zum Glück gibt es heute die Verpflichtung, alle Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen.

Schliesslich ist auch der Datenschutz zu nennen. In der Schweiz gibt es hier relativ strenge Gesetze: Damit wir genetische Daten oder Patientenproben aus der Routine für unsere Studien verwenden dürfen, bedarf es immer einer expliziten Zustimmung der Patienten. Tatsächlich ist es so, dass medizinische Daten kaum anonymisiert werden können, da aufgrund des genetischen Codes grundsätzlich immer Rückschlüsse auf die betroffene Person gemacht werden können. Wir sind zudem verpflichtet, Patientinnen wieder ausfindig zu machen, wenn wir im Rahmen unserer Forschung ein bestimmtes Krankheitsrisiko identifizieren. Die informierte Zustimmung (informed consent) ist also tatsächlich wichtig. Es stellt sich allerdings schon auch die Frage der Verhältnismässigkeit, etwa im Vergleich mit dem Internet, wo viele relativ unbedarft ihre Datenspuren hinterlassen.

Sie arbeiten in Basel, wo es grosse Pharmafirmen gibt. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen dem Universitätsspital und der privaten Industrie?

Die Zusammenarbeit mit der Industrie findet zumeist punktuell im Rahmen bestimmter Projekte statt. Es gibt für klinische Studien gewissermassen eine Arbeitsteilung. In der akademischen Forschung fokussieren wir oft auf Produkte, die schon auf dem Markt sind: Wir interessieren uns etwa für die Frage, ob ein bestehendes Malariamedikament gegen Corona wirksam sein könnte. Für die Pharmaindustrie ist das schlicht nicht interessant, da sich damit kein Gewinn machen lässt. Die grossen Firmen konzentrieren sich auf neue Produkte und benötigen für die Zulassung neuer Therapien ein aufwändiges Kontrollsystem. An solchen Zulassungsstudien sind wir als Universitätsspital natürlich in grossem Stil beteiligt. Zudem arbeiten wir öfters mit Start-ups zusammen die mit innovativen Ideen auf den Markt wollen, aber über beschränkte finanzielle Mittel verfügen. Hier ergibt sich eine klassische ‘win-win’ Situation: Wir erhalten als Universitätsspital die Möglichkeit, an wissenschaftlich spannenden Projekten mitzuarbeiten, und die kleinen Firmen profitieren von deutlich günstigeren Tarifen im Vergleich zu einer kommerziellen Forschungsorganisation.

Wie wichtig ist die internationale Zusammenarbeit für Ihre Arbeit? Was sind hier die grössten Herausforderungen?

Etwa 60–70% unserer Studien führen wir ausschliesslich in der Schweiz durch. Trotzdem sind wir für viele Projekte auf ausländische Kooperation angewiesen. Diese läuft oft über persönliche Kontakte. Aufgrund des aktuell schwierigen Verhältnisses zwischen der Schweiz und der Europäischen Kommission ist die Teilnahme am europäischen Forschungsprogramm Horizon Europe erschwert. Das ist nicht zu unterschätzen, da etwa die Förderung über den European Research Council (ERC) äusserst prestigeträchtig ist. Es ist auch wichtig, dass wir weiterhin in den grossen europäischen Verbundprojekten dabei sind und Zugang zu den internationalen Forschungsinfrastrukturen haben. Bis jetzt konnten wir glücklicherweise noch alle unsere geplanten Projekte durchführen.

Sie haben sich mit dem Schweizerischen Wissenschaftsrat SWR intensiv mit Fragen der Akzeptanz staatlicher Massnahmen im Rahmen der Pandemie befasst. Was für erste Schlüsse haben sie gezogen?

Wir haben im Sommer des vergangenen Jahres mehrere Workshops zu diesem Thema durchgeführt und bereiten momentan einen Bericht vor. Meine persönliche Meinung ist, dass Politik und Verwaltung die Schweiz relativ gut durch die Pandemie geführt haben. Gegenüber der Bevölkerung wurde recht kohärent kommuniziert, wohin die Reise geht. Die Akzeptanz der staatlichen Massnahmen war insgesamt immer ziemlich hoch. Das war für mich überraschend, da die Gegenstimmen ja ziemlich laut waren. Aber diese haben eben nicht die Mehrheit repräsentiert.

Potential gibt es sicherlich noch in der evidenzbasierten Entscheidungsfindung. Die Regierungen brauchen Daten als Entscheidungsgrundlage. Sie erhalten das Vertrauen der Öffentlichkeit, indem sie genaue, zeitnahe Informationen über die Krise bereitstellen. Von allen Ressourcen, die bei der Bewältigung einer Krise benötigt werden – wie z. B. Spezialistenteams, lebenswichtige Güter oder kritische Infrastrukturen – sind Daten diejenige, die sich am stärksten auf die Akzeptanz auswirkt. Bereits jetzt werden in der Schweiz von verschiedenen Institutionen Daten zu einer Vielzahl von Themen gesammelt, die aber oft ungenügend vernetzt sind. Hier könnte man für eine nächste Krise Lehren ziehen.

Wie sehen Sie die Rolle des SWR im Vergleich mit anderen Akteuren im Bildungs- Forschungs- und Innovationsbereich?

Ich schätze am SWR, dass er sehr multidisziplinär zusammengesetzt ist. Als Wissenschaftlerin ist man immer Spezialistin auf einem Gebiet. Ein Thema durch die Brille einer anderen Disziplin zu sehen, empfinde ich als enorme Bereicherung. Auch hier kann die Pandemie als Beispiel herhalten: Als Ärztin lag bei mir der Fokus der Pandemie primär auf den medizinischen Aspekten der Krise. Die Notwendigkeit existierende Datenquellen auch aus sozialwissenschaftlichen Disziplinen für die Krisenbewältigung besser nutzbar zu machen, wurde von Ratsmitgliedern aus der Geoinformatik und Geschichte eingebracht. Darin liegt ganz klar ein Mehrwert im Vergleich zu fachspezifischen Expertengremien.

Ganz allgemein haben wir als SWR das Mandat, den Bundesrat über Fragen der Forschungs- und Innovationspolitik zu beraten und Evaluationen vorzunehmen. Ich denke, wir könnten uns verstärkt auch noch an andere Adressaten wenden. Ich fand es im Rahmen unseres Projektes zur Akzeptanz der Corona-Massnahmen toll, dass wir die Debatte geöffnet haben und in Dialog mit Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Gesellschaft getreten sind. Ich bin überzeugt, dass unsere Ergebnisse einen kleinen Beitrag zur Bewältigung anderer Krisen leisten können.

 

1Zur Transparenz: Die Swiss Clinical Trial Organisation SCTO ist eine Forschungsinfrastruktur, die vom Bund nach Art. 15 des Forschungs- und Innovationsförderungsgesetzes (FIFG) unterstützt werden kann. Der Schweizerische Wissenschaftsrat SWR ist für die Evaluation entsprechender Gesuche zuständig.

 

Auf diesem Blog geben die Mitglieder des Schweizerischen Wissenschaftsrates ihre persönliche Meinung wieder. Diese entspricht nicht notwendigerweise der Analyse oder der Haltung des Rates.