Citizen Science und Sozialwissenschaften – so nahe, und doch so fern …
Paradoxerweise, oder gerade nicht, ist Citizen Sience (CS) bis heute in den Sozialwissenschaften weitgehend Fremdwort und Fremdkörper geblieben. Während in den Naturwissenschaften CS bei Erhebungen zur Tiervielfalt im urbanen Raum, zu Migration von Zugvögeln, zur Verbreitung von Krankheitserregern der Stechmücken oder meteorologischen Bestandsaufnahme erfolgreich zum Zuge kommt, lassen sich für die Sozial- und Kulturwissenschaften leider nur wenige nennenswerte Pendants finden, man denke etwa an eine grossangelegte Studie zum Brauchtum in Deutschland in der Zwischenkriegszeit.
Worauf beruht das mangelnde Interesse der Sozialwissenschaften an einer ähnlichen Öffnung für die Partizipation von Laien-Forschern an ihren einschlägigen Studien zu Fragen der gesellschaftlichen Welt? Könnte man diese Zeitgenossen, heute mehrheitlich mit beachtlichem Bildungskapital ausgestattet und an vielfältigen sozialen, ökonomischen und kulturellen Fragen interessiert, nicht als kompetente ethnografische Informanten über ihre jeweiligen Lebenswelten und -umstände gewinnen, anstatt sie immer aufs Neue nur als Forschungsgegenstände wahrzunehmen?
Eine aktive Einbeziehung von interessierten Bürger/innen in Studien über brennende Gegenwartsfragen, sozioökonomischen Transformationen und tiefgehendem kulturellen Wandel unserer zeitgenössischen Gesellschaften schiene doch in vielerlei Hinsicht möglich, wenn nicht gar naheliegend.1
Warum sollten die in den heutigen Sozialwissenschaften stark beforschten Probleme sozialer Exklusion denn nicht von den konkreten Alltagserfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund, spezifischen sexuellen Orientierungen oder physischen bzw. psychischen Belastungen beim Zugang zu solchen Fragen relevante empirische Tatbestände aus eigener Beobachtung und Erfahrung beisteuern können? Wären Mitbürger-/innen nicht die prädestinierte Zielgruppe für die Gewinnung von Primärinformationen zu Fragen der (Un-)Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geschlechtsspezifischer Ungleichverteilungen von häuslicher Arbeit, oder dem so oft nur top-down aus dem akademischen Reservat betrachteten Problem der gläsernen Decke beim geschlechtsspezifischen Zugang zu beruflichen Positionen und Lebenschancen?
Warum nicht Vertreter unterschiedlicher Berufe im Service Public in Studien über die Auswirkungen des New Public Management auf ihre Arbeitsbedingungen und das Betriebsklima aktiv einbinden, oder arbeitslose ältere Arbeitnehmer auf der Suche nach einer Anstellung direkt als ethnografische Informanten bei Studien zum Arbeitsmarktproblem der Generation «50+» zum Einsatz kommen lassen? Als sozial handlungsfähige, reflektierte und mit einer oft breiten Palette an Kompetenzen ausgestattete Zeitgenossen sollte man doch meinen, hier eine wertvolle Ressource für die Erforschung unserer Gegenwartsgesellschaften und ihrer vielfältigen Widersprüche und Spannungen zu finden!
Leider scheint jedoch diese Meinung in der sozialwissenschaftlichen Scientific Community bisher kaum vertreten zu sein. Man beforscht diese Mitbürger, anstatt ihnen Teilhabe und Teilnahme anzubieten, weil der Mainstream dieser Disziplinen hier weiterhin eine exklusive Kompetenz eines hochspezialisierten Homo Academicus sieht und diesen Monopolanspruch vehement verteidigt. Man könnte hier vermuten, dass diese Tendenz zur Abschottung einer „chasse gardée“ auf einem schon chronischen Legitimationsdefizit gegenüber den Naturwissenschaften beruht, welcher die Sozialwissenschaften seit ihrer Genese im späten 19. Jahrhundert wie ein Stigma begleitet. Mangels der Möglichkeit soziale Prozesse in Laborsituation experimentell zu studieren und im Stile der Naturwissenschaften postulierte Gesetzmässigkeiten nachprüfbar zu verifizieren oder falsifizieren, sieht man sich in diesen Disziplinen gezwungen, diese Handicaps durch besonders sophistische epistemologische Wachsamkeit und methodologische Schärfe zu kompensieren. Hierbei tritt der akademische Diskurs oft explizit, und dies wohl auch mit einiger Berechtigung, in Gegenlage zu den gesellschaftlichen Sichtweisen und Urteilen von Alltagsmenschen. Diese gelten dem Homo Academicus dahingehend als suspekt, dass sie ja immer aus der Sicht spezifischer Positionen mit je eigenen Interessenlagen zustanden kommen. Man etikettiert sie daher als «spontan-wissenschaftlich» und vermutet häufig, wenn nicht grundsätzlich, Verzerrungen der Sicht und des Urteils durch weltanschauliche oder ideologische Vorannahmen.
Bekanntlich ist nun aber auch der professionelle Sozialforscher mit dem Anspruch der Werturteilsfreiheit ständig gefordert und oft genug auch überfordert. Um diesem Problem entgegenzutreten entwickelte die Scientific Community forschungsethische Spielregeln und Arrangements intersubjektiver Kontrolle, die jede(r), der bzw. die in dieses Feld eintritt, erlernen muss, um legitimer Mitspieler werden zu können. Hier stellt sich dann die Frage, ob diese regulativen Prinzipien denn nicht auch auf eine über den akademischen Berufsforscher hinausgehende Population von interessierten und engagierten Laien vermittelt und eingeübt werden kann, und analog zu den bereits erfolgreich erprobten Formen von CS auch für die Sozialwissenschaften in mehrerer Hinsicht sinnvoll und fruchtbar gemacht werden kann.
Zum einen könnte man hier dem seit einigen Jahren immer aufs Neue beschworenen Anspruch besser gerecht werden, die Sozialwissenschaften aus ihrem Elfenbeinturm zurück in die gesellschaftliche Alltagswelt zu holen, ein Anspruch, für den das Konzept «Public Sociology» zum prominenten Leitmotiv wurde. Eine solche alltagsweltliche Rückkopplung und Einbettung sozialwissenschaftlicher Diskurse könnte auch ein Ausweg aus der splendid isolation sein, in die sich die Sozialwissenschaften durch eine immer stärkere Selbstreferentialität hineinmanövriert haben und in der man für Publikationen meistens nur noch eine kleinere handverlesene Leserschaft hochspezialisierter Journals findet, was nicht gerade zur öffentlichen Sichtbarkeit und Anerkennung beiträgt.
Aber auch die Ergebnisse von partizipativ angelegten Forschungen werden in ihrer Produktion und Rezeption hierdurch positiv beeinflusst. Die soziale Kluft zwischen Forscher und Beforschten, die z. B. bei Interviews mit sozial Benachteiligten so oft eine unüberwindbare Kommunikationsbarriere bildet, liesse sich durch Schulung und aktivem Einsatz von Betroffenen als Interviewer beheben, denn in diesem Falle begegnen sich Interviewer und Befragte «auf Augenhöhe», wie der Autor selbst in einem gerade abgeschlossenen Projekt zum Verhältnis von Langzeitarbeitslosen und Demokratie aus eigener Erfahrung feststellen konnte.2
Partizipative CS heisst ja nicht, dass man einem Mitmenschen bloss ein Aufnahmegerät in die Hand geben muss, er ins Feld geht und mit einem anderen Zeitgenossen drauflos kommuniziert, sondern es bedarf natürlich einer Vorbereitung und Schulung bei einem solchen joint venture von Berufsforschern und Laien. Ähnlich gute Erfahrungen konnten bei einer Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftlern und Ärzten in der Schweiz und in Griechenland gemacht werden, wo man gemeinsam der Frage nach Symptomen und Ursachen der Erschöpfung in der Arbeit nachging.3
Mit diesen konkreten Beispielen soll nicht insinuiert werden, dass CS in sozialwissenschaftlicher Forschung ein «Kinderspiel» sei. Natürlich hat man es hier mit vielfältigen Problemen bei der Einübung in Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens und der Vermittlung methodischer Kenntnisse zu tun. Selbstverständlich bedarf es auch seitens der Berufsforscher vielfältige Lernprozesse und kritische Auseinandersetzungen mit dem eigenen akademischen Habitus und den Grenzen des für ihn Denkbaren. Der Aufwand aber lohnt sich, und zwar für beide Seiten einer solchen Partnerschaft.
1 Vgl. hierzu die wenigen thematisch einschlägigen sozialwissenschaftlichen Beiträge:
Dickel, S./Franzen, M.: „Digitale Inklusion: Zur sozialen Öffnung des Wissenschaftssystems“. In: Zeitschrift für Soziologie, 2015, Jg. 44, H. 5, S. 330-347.
Selke, Stefan: „Soziologie für die Öffentlichkeit – Resonanzräume fragmentierter
Publika“. In: Soziologie, 2012, Jg. 41, H. 4, S. 400-410.
2 Denkfabrik (Hrsg.): „Gib mir was, was ich wählen kann.“ Demokratie ohne Langzeitarbeitslose? Motive langzeitarbeitsloser Nichtwähler/innen; Köln, Herbert von Halem, 2017.
3 Im Rahmen der Kooperation zwischen der Universität St. Gallen und der Klinik Schützen (Rheinfelden) entstand das Forschungsprojekt OEKAME (Ökonomie – Arbeitswelt – Medizin), mit dem Ziel, „Erfahrungen von Patienten in der Arbeitswelt aus der Sicht von praktisch tätigen Ärzten, Psychiatern und Psychologen zu erforschen“. Mehr als 500 Schweizer Ärzte beteiligten sich an der Studie.