«Das Bildungssystem hat sich noch nicht auf die KI eingestellt, wir brauchen neue Bildungsziele»

Sabine Seufert ist seit diesem Jahr Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats. Die Wirtschaftspädagogin von der Universität St. Gallen will den Umbau des Bildungssystems angehen.

Frau Seufert, Sie sind in den Schweizerischen Wissenschaftsrat gewählt worden – Gratulation! Worauf freuen Sie sich?

Vor allem auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen. Ich bin nun Teil dieses unabhängigen Beratungsgremiums, das in einer spannenden Zeit tätig sein darf, die sowohl vom digitalen als auch vom grünen Wandel herausgefordert wird. Mir ist es ein Anliegen, beide Prozesse, die oft getrennt gesehen werden, miteinander zu verknüpfen. Ich freue mich darauf, im Wissenschaftsrat meinen Beitrag zur Transformation zu leisten, und zwar mit einer langfristigen Perspektive, die im Hochschulalltag zuweilen zu kurz kommt.

Sabine Seufert ist eines der 14 Mitglieder des Schweizerischen Wissenschaftsrats SWR, Foto: Alessandro della Valle

Stehen wir an einer Epochenschwelle?

Auf dem Gebiet der KI auf jeden Fall. Die KI hat einen Sprung gemacht, was nun auch die breite Öffentlichkeit realisiert hat. Schon länger liessen sich vor allem Führungskräfte bei ihren Entscheiden datenbasiert unterstützen, was ihr Handeln rationaler machen sollte. Jetzt haben wir die generative KI, die für alle da ist, eine Art Volks-KI. Ich komme eben von der Kinderuni St. Gallen: Auch die Kleinen haben schon von KI und ChatGPT gehört. Sie ist menschenähnlich und für uns von menschlicher Intelligenz schwierig zu unterscheiden. Das ist eine grosse Herausforderung.

 

Ihr Spezialgebiet ist Künstliche Intelligenz in der Bildung. Wie kann KI den Unterricht verbessern?

Sie bietet die Chance für personalisiertes Lernen, weil sie wie ein persönlicher Coach einsetzbar ist, der die Bedürfnisse der oder des Lernenden kennt und dazu viele Sprachen spricht. Die neue KI bietet im Bildungswesen skalierbare und kostengünstige Lösungen für Probleme, die eben noch kaum lösbar schienen. Wenn Kinder zum Beispiel an Legasthenie leiden, haben sie es schwer in unserem Bildungssystem. Ob sie sich gut entwickeln und ihr Potenzial ausschöpfen können, hängt dann vom sozialen Status ab. Das ist eine grosse Ungerechtigkeit. Mit KI kann Legasthenie früh angegangen werden. Einsatzmöglichkeiten sind für die KI auf allen Bildungsstufen gegeben, auch in der Hochschulbildung und Weiterbildung.

 

An den Hochschulen sorgt KI für Aufregung, weil die Studierenden ihre Arbeiten durch ChatGPT schreiben lassen.

Ja, das Schummeln steht im Vordergrund. Das ist ein Anzeichen dafür, dass unser Bildungssystem sich noch nicht auf die KI eingestellt hat. Wir müssen es umbauen und neue Bildungsziele formulieren.

 

Wie könnten die neuen Ziele lauten?

Die sogenannte KI Literacy ist entscheidend, um in einer immer stärker von Künstlicher Intelligenz geprägten Welt sowohl informiert als auch ethisch verantwortungsvoll zu agieren.

 

Werden die menschlichen Dozierenden überflüssig werden?

Natürlich nicht! Es ist wichtig, die einzigartigen menschlichen Stärken weiter zu fördern und auf ein höheres Niveau zu bringen. Dazu gehören die Fähigkeiten, die uns von Maschinen unterscheiden, wie Innovationsgeist durch kritisches Denken, Kreativität sowie emotionale und soziale Kompetenzen. Dozierende erhalten starke Assistenten zur Unterstützung. Dies ermöglicht es den Lehrenden, sich verstärkt auf das Coaching der Lernenden und die Durchführung gemeinsamer Projektarbeiten zu konzentrieren. Dabei können sie ihre menschlichen Stärken wie Motivation und Empathie gezielt einbringen. Es braucht auch neue Jobs – und neue ethische Vorgaben: Wo ist der Einsatz von KI sinnvoll? Die Verantwortung muss beim Menschen bleiben. Er hat Kompetenzen auf höchstem Niveau, die durch die KI nicht zu ersetzen sind. Niemand will, dass die KI Mastertitel verleiht. Viele Entscheide werden in einem lokalen Kontext und wertebasiert gefällt, das soll so bleiben.

 

2020 haben Sie in einer vielbeachteten Vorlesung den Roboter Lexi eingesetzt. Warum?

Um der KI ein Gesicht zu geben, Lexi war mein Ambassador. Ich wollte zeigen, wie die Zukunft aussehen wird. Die KI war zuerst stark im Bereich Bilder, dann kamen die Sprachen, bald werden wir mit emotionaler KI konfrontiert sein. Google arbeitet an einem Serviceroboter für das Klassenzimmer, der die Umwelt mit Sensoren wahrnehmen wird.

 

Wenn Sie dem Bundesrat direkt einen Ratschlag erteilen könnten: Was würden Sie ihm sagen?

Die Schweiz ist im Bildungsbereich gut aufgestellt, auch in der Berufsbildung, doch der Föderalismus, der viele Vorteile hat, ist im digitalen Bereich ein Nachteil. Ich vergleiche die Digitalisierung mit dem Aufkommen der Dampflokomotive: Für die ersten Eisenbahnen wurden die Schienen regional angelegt, was nicht richtig funktionierte, weil die Vernetzung über die Grenzen hinweg kaum möglich war. Wir brauchen neue digitale Ökosysteme, um die KI gut nutzen zu können. Wie sollen wir dieses Netz aufbauen, wie sollen die Hochschulen neu zusammenarbeiten? Das sind die drängenden Fragen.

 

 

Sabine Seufert ist Wirtschaftspädagogin und Bildungsmanagerin an der Universität St. Gallen und Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats SWR. Sie studierte ab 1988 Wirtschaftspädagogik an der Universität Nürnberg, wo sie doktorierte. Seit 2003 leitet sie das Swiss Competence Centre for Innovations in Learning an der Universität St. Gallen, wo sie 2006 ihre Habilitation zu Innovationsorientiertem Bildungsmanagement abschloss. 2009 wurde sie Direktorin des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungstechnologien der Universität St. Gallen. Seufert forscht unter anderem zu digitaler Transformation und Künstlicher Intelligenz in der Bildung.