Das Institutionelle Abkommen Schweiz – EU: ein Überblick

Der am 7.12.2018 veröffentliche Entwurf eines Institutionellen Abkommens Schweiz – EU (InstA) sieht gemeinsame institutionelle Regelungen für die Marktzugangsabkommen Schweiz-EU vor. Sein Anwendungsbereich ist auf einige abschliessend aufgeführte Abkommen (Land- und Luftverkehr, Landwirtschaft, Freizügigkeit und technische Handelshemmnisse) sowie auf zukünftige Marktzugangsabkommen beschränkt. Das InstA ist insofern mit diesen sektoriellen Abkommen verknüpft, als diese im Falle des Ausserkrafttretens des InstA grundsätzlich auch dahinfallen, was vor dem Hintergrund der Zielsetzung des InstA zu sehen ist.

Diese geht dahin, für die Wirtschaftsteilnehmer und die Einzelnen eine grössere Rechtssicherheit zu garantieren und ihre Gleichbehandlung soweit sicherzustellen, wie die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt, dies auf der Grundlage der Homogenität der Rechtsentwicklung. In diesem Sinn formuliert das Abkommen den Grundsatz der parallelen Auslegung derjenigen Bestimmungen der Abkommen, die auf Unionsrecht verweisen, mit dem Unionsrecht, wobei ausdrücklich auch die einschlägige Rechtsprechung des EuGH zu beachten ist.

Weiterentwicklungen des EU-Rechts im Anwendungsbereich des InstA sollen in den Rahmen des jeweiligen Abkommens übernommen werden, womit die angestrebte Parallelität der Rechtslage dauerhaft gewährleistet werden soll. Das für die Weiterentwicklung vorgesehene Verfahren stellt sicher, dass die internen Gesetzgebungsverfahren (unter Einschluss des Erlasses referendumsfähiger Rechtsakte) gewahrt werden, was angesichts des durch zahlreiche unionsrechtliche Rechtsakte eingeräumten mitunter beträchtlichen Gestaltungsspielraums durchaus von grosser Bedeutung ist.

Für die konkrete Durchführung der auf dieser Grundlage notwendigen Anpassung der sektoriellen Abkommen wird auf die in diesen verankerten Verfahrensvorschriften verwiesen, so dass die durch die aus Vertretern der Vertragsparteien zusammengesetzten Gemischten Ausschüsse die entsprechenden Beschlüsse fassen müssen. Dies impliziert auch, dass nur diejenigen Abkommensteile modifiziert werden können, für die den Gemischten Ausschüssen eine entsprechende Kompetenz zusteht (im Wesentlichen im Falle des Verweises auf EU-Richtlinien oder EU-Verordnungen). In den anderen Fällen sollen die Gemischten Ausschüsse im Falle der Weiterentwicklung Vorschläge zur Revision des betreffenden Abkommens unterbreiten.

Bedeutsam ist diese Unterscheidung für die viel diskutierte Unionsbürgerrichtlinie: Die entsprechenden Rechte sind nämlich in Anhang I des Freizügigkeitsabkommens (FZA) verankert, der nicht durch den Gemischten Ausschuss revidiert werden kann, so dass eine Übernahme der Richtlinie nur über eine Modifikation des FZA erfolgen kann. Weiter betrifft die Unionsbürgerrichtlinie jedenfalls teilweise Aspekte, die nicht als Weiterentwicklung des FZA zu qualifizieren sind, übernimmt letzteres doch gerade nicht die Unionsbürgerschaft als solche. Insofern lässt sich aus dem InstA keine Pflicht zur Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie ableiten, wobei die genaue Tragweite des InstA in Bezug auf diesen Aspekt präzisierungsbedürftig bleibt. Jedenfalls ist darüber hinaus zu beachten, dass die Tragweite der Unionsbürgerrichtlinie oft überschätzt wird: In weiten Teilen übernimmt sie bereits vorher bestehendes (und für die Schweiz sowieso aufgrund des FZA verbindliches) EU-Recht oder kodifiziert die Rechtsprechung des EuGH (so z.B. in Bezug auf die Zulässigkeit der Ausweisung straffällig gewordener Personen). Hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfe ergibt sich aus der jüngeren Rechtsprechung des EuGH klar, dass diese für Nichterwerbstätige grundsätzlich nicht zu gewähren ist bzw. diese Personen ausgewiesen werden können; etwas anderes gilt zwar für Personen mit einem sog. Daueraufenthaltsrecht (eine echte Weiterentwicklung), wobei jedoch fraglich ist, ob dieses wirklich übernommen werden müsste.

Im Zusammenhang mit der Homogenität der Rechtsentwicklung ist weiter auf zwei Protokolle zum InstA hinzuweisen, die einerseits bereits bestehende spezifische Ausnahmeregelungen für die Schweiz (wie z.B. das Sonntagsfahrverbot für Lastwagen) verankern, andererseits ausdrücklich gewisse Massnahmen zum Arbeitnehmer- bzw. Lohnschutz für jedenfalls zulässig erklären.

Letztere bleiben teilweise hinter den derzeit zum Zuge kommenden sog. Flankierenden Massnahmen zurück. So soll die Voranmeldepflicht für Dienstleistungserbringer aus dem EU-Ausland nur vier Werktage (im Gegensatz zu derzeit acht Kalendertagen) betragen, eine Kaution nur von denjenigen Dienstleistungserbringern verlangt werden dürfen, die in der Vergangenheit gegen ihre Verpflichtungen verstossen haben und gewisse Dokumentationspflichten können vorgesehen werden. Ansonsten soll die Schweiz die neue Entsenderichtlinie der Union und die diesbezügliche sog. Durchsetzungsrichtlinie umsetzen.

Auf den ersten Blick wird damit der Handlungsspielraum der Schweiz bezüglich der Ergreifung von Massnahmen zum Arbeitnehmerschutz empfindlich eingeschränkt. Auf den zweiten Blick ist dies jedoch zu relativieren: Zwar dürften in der Tat Massnahmen, die in die gleiche Richtung gehen, wie die erwähnen ausdrücklichen Instrumente (Voranmelde-, Kautions- und Dokumentationspflicht), insoweit grundsätzlich als unverhältnismässig anzusehen sein, als sie diesbezüglich strenger sind; keinesfalls ausgeschlossen sind jedoch andere Massnahmen zur Aufrechterhaltung des Lohnniveaus (vorausgesetzt, sie sind verhältnismässig), worauf das InstA auch ausdrücklich hinweist. Auch die massgeblichen Richtlinien sehen hier grosse Spielräume vor.

Bezüglich der staatlichen Beihilfen formuliert das InstA gewisse Grundsätze, welche derzeit ausschliesslich auf das Luftverkehrsabkommen Anwendung finden, jedoch in Bezug auf zukünftige Abkommen zum Zuge kommen sollen (was insbesondere für das Stromabkommen relevant ist). Diese Regelungstechnik impliziert, dass jeweils eine ausdrückliche Bezugnahme in dem jeweiligen sektoriellen Abkommen notwendig ist und dass die materiellen Vorgaben bezüglich der staatlichen Beihilfen nicht als solche unmittelbar anwendbar sind. Die Überwachung der Einhaltung der Regelungen über staatliche Beihilfen sollen in der Schweiz und in der EU durch jeweils eigene, unabhängige Behörden erfolgen.

Ein Kernstück des InstA stellt das Streitbeilegungsverfahren dar: Falls die Vertragsparteien eine Streitigkeit über Anwendung oder Auslegung der erfassten Abkommen nicht im Rahmen des Gemischten Ausschusses beilegen können, kann die Schweiz oder die EU ein Schiedsgericht (bestehend aus drei oder fünf Personen, wobei je eine bzw. zwei von jeder Vertragspartei bestimmt werden, die sich auf die verbleibende Person einigen) anrufen. Dieses entscheidet verbindlich, wobei es im Falle der Betroffenheit von in die Abkommen übernommenen EU-Rechts den EuGH anzurufen hat, dessen Urteile zu beachten sind. Befolgt die unterlegene Partei ein Urteil des Schiedsgerichts nicht, so kann die andere Vertragspartei verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen.

Insgesamt handelt es sich beim InstA um ein komplexes Abkommen, das einige Auslegungsfragen aufwirft (was freilich kein Alleinstellungsmerkmal dieses Abkommens ist, sondern bei Rechtstexten häufig vorkommt). Seine Bewertung sollte vor dem Hintergrund erfolgen, dass es (nur) um den Rahmen für diejenigen Bilateralen Abkommen geht, die eine (teilweise) Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt garantieren sollen. Das vorliegende Verhandlungsergebnis – wobei der Entwurf sowohl Elemente eines «Integrationsvertrages» aufweist als auch auf eher klassische völkerrechtliche Grundsätze und Funktionsweisen zurückgreift – erscheint insgesamt ausgewogen und berücksichtigt in vielen Aspekten die Interessen der Schweiz. Zwar ist nicht zu verkennen, dass es den Handlungsspielraum der Schweiz – wie jeder völkerrechtliche Vertrag – einschränkt, insbesondere durch die vorgesehene dynamische Anbindung an die Entwicklung des Unionsrechts. Auch konnte die Schweiz nicht alle ihre Anliegen vollumfänglich durchsetzen (Stichworte sind hier die Unionsbürgerrichtlinie und die Flankierenden Massnahmen), und der Streitbeilegung wird durchaus eine gewisse Rolle zukommen. Auf der anderen Seite gewährleistet das Abkommen aber auch einen umfassenden Zugang der Schweiz zu weiten Teilen des EU-Binnenmarkts, und sie wird insoweit im Wesentlichen gleich wie ein EU-Mitgliedstaat behandelt. Gleichzeitig werden ihr gewisse – im Vergleich zu den EU-Mitgliedstaaten – «Sonderrechte» eingeräumt, und gerade die Streitbeilegung sowie die Reichweite der grundsätzlichen Pflicht zur Übernahme von Weiterentwicklungen lassen auch Raum für politische Bewertungen und Lösungen. Zu erinnern ist weiter daran, dass zahlreiche nunmehr ausdrücklich im InstA erwähnte Aspekte an die Zielsetzungen der sektoriellen Abkommen anknüpfen und in weiten Teilen bereits der heutigen Rechtslage oder Praxis entsprechen (so die parallele Auslegung oder die Anpassung der Abkommen durch die Übernahme von Weiterentwicklungen des EU-Rechts).

Die Verankerung entsprechender Grundsätze in einem Vertragswerk und die «Verrechtlichung» der Streitbeilegung ist im Übrigen auch insoweit im Interesse der Schweiz, als sie eine grössere Rechtssicherheit mit sich bringt und die Möglichkeit des Einsatzes politischen Drucks beschränkt, was dem kleineren Vertragspartner ein wichtiges Anliegen sein müsste, auch und gerade im Hinblick auf die Interessen der Schweiz an der Weiterentwicklung gewisser Abkommen (insbesondere dasjenige über Technische Handelshemmnisse). Insofern ist der Abschluss des Institutionellen Abkommens für die Schweiz von grosser Bedeutung: Es gewährleistet nicht nur die Zukunftsfähigkeit des Bilateralen Weges, sondern bringt auch Rechtssicherheit für die Schweiz.

Im Ergebnis geht es damit letztlich um eine politische Abwägung, in deren Rahmen auch die durchaus komplexen inhaltlichen Aspekte vertieft diskutiert werden sollten, anstatt mit verkürzenden Schlagworten zu operieren. Dabei ist wohl zu beachten, dass ein «Nachverhandeln» mit der Union bzw. ein «besseres» Ergebnis in einigen Jahren nicht realistisch erscheint und der Verzicht auf das InstA nicht nur die Zukunftsfähigkeit des Bilateralen Weges gefährdete, sondern auch diverse sonstige Nachteile (z.B. fehlender Zugang zu den Forschungsrahmenprogrammen oder eine Nichtanerkennung der Schweizer Börse) für die Schweiz zu erwarten wären. Bei einem solchen «politischen Kräftemessen» würde die Schweiz wohl letztlich den Kürzeren ziehen.

Für die Schweiz als wirtschaftlich, politisch und kulturell international verflochtenes Land ist die verlässliche und stabile Gestaltung der Beziehungen zur Europäischen Union von zentraler Bedeutung. Die Vorstellung, die Schweiz könne ohne einen gesicherten Zugang zum EU-Binnenmarkt ihren Wohlstand und ihre Innovationskraft ohne Weiteres aufrecht erhalten, erscheint angesichts der tatsächlichen Abhängigkeiten wenig überzeugend, und ein Verharren in der Illusion einer unbeschränkten «Souveränität» ist wohl nicht zukunftsfähig. Es wäre daher dringend an der Zeit, sich auf allen Ebenen diesen bedeutenden Fragen zu stellen und sie möglichst rational und unter Bezugnahme auf die inhaltlichen Fragen und Fakten zu diskutieren. Hier sind Politik, Wirtschaft, Verbände, Wissenschaft und die gesamte Gesellschaft gefordert, um den auf dem Tisch liegenden Vertragsentwurf mit der gebotenen Nüchternheit zu bewerten (unter Einbezug der m.E. grossen Risiken der Nichtentscheidung).