Den Arzt, die Ärztin gibt es nicht mehr: Veränderungen des Arztberufs und deren Bedeutung für das Medizinstudium
In den letzten hundert Jahren wandelte sich der Beruf der Mediziner[1], und er wird sich in den nächsten zehn Jahren nochmals stark wandeln. In den letzten hundert Jahren fächerte sich die Medizin in über vierzig verschiedene Disziplinen wie die Allgemeinmedizin, die Pneumologie, die Rheumatologie oder die Handchirurgie auf. In den kommenden zehn Jahren wird sich mit der „Digitalisierung“ die Tätigkeit der Mediziner nochmals verändern. Digitalisierung bedeutet: schnelle und jederzeitige Verfügbarkeit relevanter Informationen, Wissensgenerierung mit «machine learning» (künstliche Intelligenz) und vermehrter Einsatz von Robotern, zum Beispiel in der Chirurgie.Die positiven und negativen Folgen der Aufteilung der Medizin in die verschiedenen Disziplinen sind für Mediziner und Patienten offensichtlich. Die Folgen der Digitalisierung sind in ihrem vollen Ausmass noch nicht abschätzbar. Die für die Ausbildung verantwortlichen Personen stehen vor der Frage, welche Auswirkungen diese Entwicklungen – die Unterteilung in verschiedenste Disziplinen und die Digitalisierung – auf die Ausbildung der Mediziner hat und haben sollte.
Das im Medizinalberufegesetz deklarierte Ziel des Medizinstudiums ist es, «weiterbildungsfähige Assistenzärztinnen und Assistenzärzte» auszubilden. Das heisst, am Ende des Medizinstudiums, das sechs Jahre dauert, sollten die Absolventen befähigt sein, sich in einer der über vierzig medizinischen Disziplinen weiterzubilden. Dass sechs Jahre Medizinstudium nötig sind, um jemanden für Chirurgie, Innere Medizin, Kardiologie oder eine der anderen Disziplinen weiterbildungsfähig zu machen, ist nicht plausibel begründbar. Das heutige Konzept des Medizinstudiums basiert noch immer auf der Vorstellung, dass es den einen Arzt oder die eine Ärztin gibt, obwohl klar ist, dass es sie nicht mehr gibt.
Die Tatsache, dass nicht sechs Jahre Studium notwendig sind, um weitergebildet werden zu können, müsste zu einer fundamentalen Neustrukturierung des Medizinstudiums führen. Folgerichtig wäre ein für alle Studenten gleiches Grundstudium (Bachelor) und im Anschluss ein Masterstudium in einer der Disziplinen. Auf der Bachelor-Stufe wird das gelehrt, was alle Mediziner, unabhängig von der Disziplin, in der sie später arbeiten, wissen und können müssen. Diese Inhalte müssten in einem Verfahren, an dem Mediziner mit Berufserfahrung aus den verschiedenen Disziplinen massgeblich beteiligt sind, definiert werden. Ein Bestandteil des Bachelorstudiums wären Praktika in verschiedenen Disziplinen. Diese sollen den Studierenden bei der Wahl des Masterstudiums helfen. Auf der Masterebene wird eine Ausbildung in einer der Disziplinen angeboten, wobei es weder möglich noch notwendig ist, überall für vierzig Disziplinen einen eigenen Master anzubieten. Die beabsichtigten Konsequenzen einer solchen Reform sind eine stärker fokussierte und mehr an der späteren Tätigkeit orientierte Ausbildung und eine markante Verkürzung der Aus- und Weiterbildungsdauer.
Ein zweiter Punkt ist die «Digitalisierung», die auch vor der Medizin nicht haltmachen wird. Während es früher notwendig war, in einem Buch, das möglicherweise in einer Bibliothek in einem anderen Gebäudeteil stand, nachzuschlagen, um benötigte Informationen zu finden, sind diese heutzutage im Internet innert Sekunden zu finden. Details, die im Medizinstudium gelehrt, auswendig gelernt und geprüft werden, sind im Internet einfach abrufbar; ob es die Bezeichnungen der Löcher in der Schädelbasis, der Verlauf des Nervus vagus, die Beta-Oxidation der Fettsäuren, der Wirkungsmechanismus von Aspirin, oder die Nebenwirkungen eines Medikaments sind, all das findet man im Internet innert Sekunden.
Die Digitalisierung wird die tägliche Arbeit der Mediziner grundlegend verändern. Die Digitalisierung ermöglicht nicht nur den Zugang zu Informationen. Die in Computern gespeicherten Algorithmen werden auch Wissen generieren, sie werden korrekte Diagnosen stellen, nicht nur in der Radiologie oder Dermatologie, sie werden präzisere Angaben über den Effekt verschiedener Therapien für den einzelnen Patienten machen und sie werden die individualisierte Medizin ermöglichen.
Die einfache Zugänglichkeit zu Informationen mit immer ‘intelligenteren’ Suchmaschinen führt zur Frage, was Medizinstudenten in Zukunft an Detailwissen überhaupt noch auswendig lernen müssen oder sollen. Das Medizinstudium besteht, darüber herrscht wenig Zweifel, zu einem beträchtlichen Teil aus Auswendiglernen, und vieles von dem, was sie auswendig lernen mussten, vergessen die Studenten nach der Prüfung. Fraglos müssen Mediziner vieles wissen, die Frage ist jedoch, was und in welchem Detailierungsgrad. Was sie im Masterstudium lernen, muss naturgemäss für jede Disziplin unterschiedlich sein.
Auch wenn in Zukunft der ‘Computer’, basierend auf Algorithmen, Krankheiten korrekter diagnostizieren und präzisere Vorhersagen über den weiteren Verlauf einer Erkrankung, in Abhängigkeit von der Therapie, machen kann, bleiben dem Arzt immer noch sehr anspruchsvolle Aufgaben. Die eine ist zu kontrollieren, ob das Ergebnis des Computers plausibel ist, eine andere ist, die Ergebnisse mit dem Patienten in einer verständlichen Sprache zu besprechen und eine gute Beziehung zu schaffen, die für die weitere Betreuung vor allem von Patienten mit chronischen Krankheiten wesentlich ist. Welches Wissen für die Kontrolle der Ergebnisse nötig ist, ist derzeit zwar noch alles andere als klar, aber mit grösster Wahrscheinlichkeit sind es nicht die fast unendlich vielen Details, die heute der Student im Studium lernt.
Auch wenn wir die Auswirkungen der ‘Künstlichen Intelligenz’ auf den Beruf des Arztes noch nicht genau kennen, lohnt es sich, über sie nachzudenken und daraus Konsequenzen für die Ausbildung der Mediziner abzuleiten. Und sogar unabhängig von den Folgen der Digitalisierung ist es infolge der Auffächerung der Medizin in zahlreiche Spezialdisziplinen höchste Zeit, eine fundamentale Reform der Medizinausbildung anzugehen. Der Status quo des Medizinstudiums wird schon den heutigen Herausforderungen nicht mehr gerecht, geschweige denn jenen von morgen.
[1] Der besseren Lesbarkeit halber wird die männliche Form verwendet.
Siehe auch die neue SWR-Publikation:
Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit im digitalen Zeitalter
Politische Analyse und Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR
Konzeptanalyse von Prof. Dominic Murphy, University of Sydney, im Auftrag des SWR
Politische Analyse 1/2019
Februar 2019