Die Entscheidungshelfer
Wissenschaftler sollten sich öfter in öffentliche Debatten einmischen. Dazu muss die Diskussionskultur entschieden besser werden.
Sollten sich Wissenschaftler in der Politik und der Öffentlichkeit deutlicher zu Wort melden? Anlässe gäbe es genug. Gentechnik und künstliche Intelligenz verändern unser Leben, noch ehe wir die Konsequenzen dieser Entwicklung verstanden haben. Das führt zu Debatten um ethische Probleme, welche eher von diffusen Ängsten als von faktenbasierten Argumenten befeuert werden und die Unsicherheit vergrössern, statt sie zu reduzieren.
Eindeutige Stellungnahmen von Wissenschaftlern wünscht sich die Öffentlichkeit auch zu anderen drängenden Problemen, etwa die Sicherheit von atomaren Endlagern oder die Begrenzung des Klimawandels. Als Vorbild dient oftmals das sogenannte Russell-Einstein-Manifest, welches 1955 von 10 Nobelpreisträgern angesichts der Wasserstoffbomben-Tests der USA veröffentlicht wurde. Die Unterzeichner fordern eine nukleare Abrüstung und zur Lösung von Konflikten eine Rückbesinnung auf die Menschlichkeit.
Fehlen uns heute solche deutlichen Stellungnahmen? Fehlen uns mutige Wissenschaftler, die mit ihrer Reputation diesen Manifesten Gewicht verleihen? So einfach ist die Sache leider nicht, was die Diskussion um so lehrreicher macht. Es geht im Kern um die Frage, ob diese Stellungnahmen ihr Zielpublikum noch erreichen.
Um Gehör zu finden, sollten Wissenschaftler mit einer Stimme sprechen. Davon sind wir heute weiter denn je entfernt. Bereits 1955 konnten sich, aufgrund subtiler politischer Differenzen, nicht alle „opinion leaders“ auf ein gemeinsames Manifest einigen. So wurde nur wenige Tage nach dem Russell-Einstein Manifest auf der Nobelpreisträger-Tagung in Lindau die so genannte Mainauer Deklaration veröffentlicht, die sich ebenfalls gegen die Nutzung von Nuklearwaffen aussprach. Unterzeichnet wurde sie von 18 Nobelpreisträgern, innerhalb eines Jahres gab es 52 Unterzeichner.
In ihrer Grundaussage identisch, stand diese Mainauer Deklaration trotz breiter Unterstützung stets im Schatten des Russell-Einstein Manifestes. Der entscheidende Grund dafür liegt in der Rolle der Medien. Das Russell-Einstein Manifest wurde öffentlichkeitswirksam in einer grossen Pressekonferenz in London vorgestellt, an der neben den Printmedien auch Rundfunk und TV zugegen waren. Damit konnte die Weltöffentlichkeit des Jahres 1955 auf einen Schlag erreicht werden. Ein Philanthrop unterstützte im Geiste des Manifestes in Pugwash eine Serie von Konferenzen über Wissenschaft und internationale Probleme. Diese wiederum hatten grossen Anteil am Zustandekommen des Atomwaffensperrvertrages von 1963, was durch die Verleihung des Friedensnobelpreises 1995 gewürdigt wurde – eine Erfolgsgeschichte. Bedingt wurde sie weniger durch Form, Inhalt oder Ziel – auch in Mainau äussern sich regelmässig Nobelpreisträger, als vielmehr durch die mediale Verstärkung, die dem Appell der einen Gehör verschaffte, während der Appell der anderen vergessen ging.
Dass nicht der Inhalt, sondern die Aufmerksamkeit über den „Erfolg“ entscheidet, kennen wir heute aus den sozialen Medien. Wissenschaftler stehen dieser Art der Popularisierung ihrer Forschung nach wie vor skeptisch gegenüber, zu Recht. Öffentliche Stellungnahmen verlangen nach klaren und eindeutigen Botschaften. Aber nicht jede Art von Forschung lässt sich auf diese Weise „versimplifizieren“. Das gilt besonders für komplexe Probleme, wie den Klimawandel. Schon die Daten sind mit Unsicherheiten behaftet, viel mehr noch die Modelle, die daraus Vorhersagen generieren sollen. Wissenschaftler sind sich über diese Probleme im Klaren, aber ihre Lösungsvorschläge weichen oft stark voneinander ab. Mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen, ist heute aufgrund der Komplexität der Probleme, aber auch wegen der zehntausendmal grösseren Zahl von Wissenschaftlern im Vergleich zu 1955 noch viel schwieriger.
Dazu kommt das Hauptproblem: welcher Öffentlichkeit ist eine solche differenzierte Diskussion noch zuzumuten? Was sich nicht in 280 Zeichen wiedergeben lässt, übersteigt schnell die populäre Aufmerksamkeit, von einer kritischen Abwägung der Meinungen ganz zu schweigen. Auch Politiker sind vor allem an Argumenten interessiert, die ihre Entscheidungen stützen und nicht an den Details, die diese wieder in Frage stellen könnten. Viele Fakten liegen auf dem Tisch. Es geht nicht darum, ob sie jemand ausspricht, sondern ob sich jemand findet, der ihnen Gehör schenkt.
Und schliesslich: Wie werden wissenschaftliche Meinungen aufgenommen, gerade wenn sie eigenen Ansichten widersprechen? Hier hat sich ein radikaler Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung vollzogen. Wissenschaftler sind nicht mehr Autoritäten, die mühsam gewonnene Fakten präsentieren. Ihren Aussagen kann man, wie in der Religion, heute glauben oder auch nicht, sofern ihre Ansichten nicht ohnehin in der Kakophonie der Meinungen untergehen. Denn je komplexer die Probleme, desto grösser die Zahl derjenigen, die es besser wissen. Hasskommentare und Beleidigungen in Diskussionsforen als Reaktion auf wissenschaftliche Meinungsäusserungen sind zur Regel geworden. Wer erfolgreich in der Wissenschaft tätig ist, wird sich überlegen, ob er seine Energie in solche Art von Auseinandersetzung oder doch besser in seine Forschung investiert.
So ist es am Ende oftmals ein kleiner Kreis der Immergleichen, der sich zu Interviews und Talkshows einladen lässt und genau darum den Journalisten bekannt ist – ein sich selbst verstärkender Prozess. Damit besteht die Gefahr, dass Meinungen, die gar nicht repräsentativ sind, als massgebliche Ansichten „der“ Wissenschaft wahrgenommen werden. Gerade Warner und Mahner nehmen einen moralischen Vorteil in Anspruch, der keineswegs immer durch wissenschaftliche Fakten legitimiert ist. Die Frage „Cui bono – wem nützt es?“ gilt auch für die öffentlichen Stellungnahmen von Wissenschaftlern.
Fazit: Manifeste und Deklarationen von Wissenschaftlern sind wichtig, weil sie der gesellschaftlichen Meinungsbildung dienen. Gleichzeitig sind sie nutzlos, wenn die „Bildung“ dieser Meinung nicht mehr gewährleistet ist, weil die mediale Aufmerksamkeit das Meinungsspektrum einengt, Argumente bis zur Sinnlosigkeit vereinfacht werden, wissenschaftliche Fakten zu Ansichtssachen degradiert und gegenteilige Meinungen moralisch oder politisch diffamiert werden. Wer sich mehr Beteiligung von Wissenschaftlern an der öffentlichen Diskussion wünscht, sollte auch die gegenwärtige Diskussionskultur auf den Prüfstand stellen.
Dieser Artikel ist am 13. Februar 2019 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.