Die Schweiz auf der digitalen Überholspur
An der ersten nationalen Konferenz “Digitale Schweiz” zeichnete die Bundespräsidentin Doris Leuthard ein anregendes Bild. Die Digitalisierung ist wie ein Rennen, bei dem die Schweiz leider ein wenig den Startschuss verpasst hat. Beispiele wurden gezeigt, wie das von Estland, welches eine digitale Regierung mit digitale Identitäten erfolgreich eingeführt hat. Frau Leuthard führte weiter aus, dass aber nun die Schweiz dieses Problem immerhin erkannt habe und sich mit grosser Initiative einsetze zu überholen. Ist die Schweiz tatsächlich auf der digitalen Überholspur und was genau ist das Ziel, auf das wir uns hin bewegen?
Wenn es im Speziellen um digitale Kompetenzen und damit um Bildung geht, ist das Spektrum von Meinungen verblüffend weit. Auf der positiven Seite denken die einen, dass Programmieren die fünfte Landessprache werden soll. Auf der negativen Seite, bei den anderen, gibt es Stimmen, die behaupten, dass Programmieren in der Primarschule “absurd” sei. Aber in diesem kurzen Artikel geht es ausnahmsweise nicht darum, was wir machen sollen – oder eben nicht –, sondern darum, was die Schweiz bereits macht. Tatsächlich ist die Schweiz in Bezug auf digitale Bildung zwar im Rückspiegel von Digital Thought Leader Nationen wie den USA und der UK zu sehen, hat aber endlich mit ausserordentlichen Massnahmen den metaphorischen Blinker gestellt.
Mit dem Lehrplan 21 (LP21) hat die Schweiz mit einem quasi nationalen Lehrplan (es sind die 21 deutschsprachigen der 26 Kantone eingeschlossen) einen riesigen Sprung nach vorne gemacht in Richtung der schweizweiten Einführung von Informatischer Bildung in der Primarschule. Im LP21 Modul Medien und Informatik geht es u.a. ums Programmieren. Aber wieso ist die Idee von Programmieren an der Primarschule so umstritten? Es gibt zwei grundsätzliche Probleme. Erstens ist vielen nicht klar, was das Ziel von Programmieren in der Schule sein soll. Zweitens ist auch nicht klar, wie Informatik als Teil des Medien und Informatik Moduls des Lehrplans 21 systemisch umgesetzt werden soll.
Ziel von Programmieren
Das Ziel von Programmieren an der Primarschule ist keinesfalls Programmiererinnen und Programmierer auszubilden. Das Ziel ist hingegen, dass Schülerinnen und Schüler sogenannte Computational Thinkers werden, also Personen, die in der Lage sind, logisches Denken und kreative Prozesse einzusetzen, um Probleme zu analysieren und zu lösen. Im 21. Jahrhundert sind Schulen nicht mehr nur Orte des Auswendiglernens. Die Schweiz braucht kreative Leute und keine Memory Sticks. Computational Thinking ist keineswegs Informatik reduziert auf Anwenderkompetenzen wie beispielsweise die Benutzung von MS-Office. Computational Thinking ist eine in mehrere Kompetenzbereiche des Lehrplans 21 (inklusive MINT, Gestalten, Sprachen und Musik) integrierbare Form des Denkens mit dem Computer. Anspruchsvolle Aufgaben wie z.B. Wahrscheinlichkeitsrechnungen in der Mathematik können mit dem Computer viel anschaulicher unterrichtet werden. Der Fachbereich Mensch/Natur/Gesellschaft des Lehrplans 21 empfiehlt die Benutzung von Modellen (z.B., Ernährung, und Ökosysteme) in über 50 Kompetenzen.
Interessanterweise spricht der LP21 allerdings nicht wirklich von der Kreierung dieser Modelle. Viele solche Modelle können mit relativ kleinem Aufwand von Schülerinnen und Schüler mit geeigneten Computational Thinking Tools wie zum Beispiel AgentCubes selbst erstellt und programmiert werden. Durch dieses integrierte Bauen von Spielen und Simulationen unterstützen Computational Thinking Tools die Vermittlung und den Erwerb mathematischer, naturwissenschaftlicher, gestalterischer, musikalischer, und sprachlicher Kompetenzen. Die Forschungsresultate sind klar. Die Schülerinnen und Schüler sind begeistert. Sie können und wollen so lernen.
Systemische Umsetzung
“Crossing the chasm”, ein Begriff der Diffusionstheorie, beschreibt das hartnäckige Problem der Überwindung der grossen Kluft zwischen den sogenannten “Early Adopters” (Figur 1: rote und orange Zone) und der “frühen Mehrheit” (grüne Zone). Diese Theorie lässt sich auch auf Informatische Bildung anwenden und man kann damit 3 Stufen unterscheiden.
- Stufe I, die “Friday-Afternoon Computer Club”-Stufe (Schülerinnen, Schüler, selbstgewählt und Lehrpersonen, selbstgewählt) der 90er Jahre in den USA. Hier unterrichteten Lehrpersonen aus Eigeninitiative ausserhalb der Schule Schülerinnen und Schüler, die ebenfalls aus Eigeninitiative teilnahmen. Diese Form benötigt viel Engagement der Lehrpersonen und funktioniert schlussendlich auch nur für eine kleine Minderheit von “geeks”, also hoch technologie-affinen Kindern.
- Stufe II, die “Freiwillige Weiterbildungs”-Stufe (alle Schülerinnen und Schüler/Lehrpersonen, selbstgewählt), basiert auf einem überzeugenden, weitverbreiteten Weiterbildungskonzept und findet sich beispielsweise bei CS4All in den USA oder Computing at Schools in der UK. Hier erhalten Lehrpersonen eine Informatik-Weiterbildung, die sie aus Eigeninitiative besuchen und dann typischerweise in verpflichtenden Kursen an der Schule an alle Schülerinnen und Schüler weitergeben. Diese Stufe hat schon weit grössere Auswirkungen als Stufe I, da sie nicht reduziert ist auf technologie-affine Kinder, sondern alle Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Lehrpersonen einschliesst.
- Stufe III, die “Verpflichtende Bildungs-Stufe (alle Schülerinnen und Schüler/alle Lehrpersonen). Wenn die Gesellschaft wirklich glaubt, dass “Computational Thinking” eine wesentliche Fähigkeit des 21. Jahrhunderts ist, genau wie mathematisches Denken, dann muss sie sich auf transformatorische verpflichtende Praktiken umstellen. Im Fall der PH FHNW ist die Umstellung erfolgt. Die Veränderung ist deshalb von transformierender Kraft für das Bildungswesen, weil Studierende, die das obligatorische Modul Informatische Bildung nicht bestehen, möglicherweise nicht in der Lage sind, ihre Karriere als Primarschul-Lehrperson weiter zu verfolgen. Diese Verschiebung von freiwillig zu verpflichtend ist der Hauptgrund, warum die Akkreditierung für das neue Modul mit zwei Kursen fast 5 Jahre dauerte.
Es ist noch zu früh um zu sagen, ob diese Schweizer Strategie mit dem Namen “Scalable Game Design” die Kluft im Bereich Informatische Bildung überwinden kann und zu systemischen Auswirkungen führen wird. Studierende der Primarstufe zu verpflichten, Kurse im Bereich Informatischer Bildung zu bestehen, ist eine gewaltige Herausforderung. Das erste Semester mit den über 600 zukünftigen Lehrern ist beendet. Die Daten deuten darauf hin, dass die Studierenden wichtige erste Schritte hin zum Verständnis des Computational Thinking vollzogen haben, einschliesslich des Erwerbs einiger grundlegender Programmierfähigkeiten. Im zweiten Semester werden dieselben Studierenden in die Informatikdidaktik eingeführt. Wird ihr Verständnis von Computational Thinking ausreichen um Informatik begeistert und begeisternd zu unterrichten? Nur die Zukunft wird es zeigen. Aber wir sind endlich mal auf der Überholspur.
Autor
Alexander Repenning ist Leiter der Hasler Professur für Informatische Bildung an der PH FHNW. Er ist ausserdem Professor für Informatik an der University of Colorado und Gründer der Agentsheets Inc. (www.agentsheets.com). Er leitet die Scalable Game Design Initiative an der University of Colorado. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten informatische Bildung, programmierbare Endanwender-Objekte und künstliche Intelligenz (KI). Er hat in Forschung und Entwicklung bei zahlreichen namhaften Unternehmen mitgearbeitet wie z.B. Asea Brown Boveri, Xerox PARC, Apple Computer und Hewlett Packard.
Alexander Repenning hat das Vorwort zum Kapitel „Digital competences“ in der Publikation „Notions of disruption“ verfasst. (https://wissenschaftsrat.ch/images/stories/pdf/en/Exploratory_study_3_2017_Excerpt_Digital_Competences_SSIC_EN.pdf)