Die schweizerische Krisenbewältigung von Covid-19
Anmerkungen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive
Selbstverständlich könnte man dem schweizerischen Bundesrat vieles vorwerfen zu seinem Corona-Management: Hat er nicht zu spät auf Warnungen der Epidemiologen reagiert? Warum gab es keine Zahlen zu den Eintritten und Austritten aus den Intensivstationen und deren Belegung, wenn es doch so wichtig war, die Überlastung der Spitäler zu vermeiden? War es richtig, wegen der gesundheitlichen Risiken einen «lock down» auszurufen, der unserem Land wirtschaftliche Schäden von einigen hundert Milliarden beschert hat? Und was ist mit den gesundheitlichen Beeinträchtigungen für jene, die nicht an Corona litten? Die Betagten in den Heimen, die ihre Angehörigen nicht sehen und berühren durften? Die vielen, welche auf ihre Operation warten mussten oder trotz halb-leerer Spitälern abgewiesen wurden, weil «Corona» einen amtlich verfügten Vorrang hatte?
Immerhin folgte die schweizerische Regierung dem, was die meisten europäischen Länder in der Krise anordneten, jedoch tat sie es auf dem typisch-schweizerischen Mittelweg: nicht zu früh, nicht zu spät, begrenzt interventionistisch, aber konsequent, und relativ erfolgreich. Einen riskanteren Weg einzuschlagen wie Schwedens Regierung, konnte von ihr nicht erwartet werden: Zu nah lag die Schweiz am Corona-Hot-Spot Oberitalien, und der Schweizer Regierung ist nicht jenes politische Selbstbewusstsein zuzutrauen, mit dem sich die Schweden internationalen Trends widersetzen.
Ein Gutteil solcher Kritik, die bestimmt noch kommen wird, kann man als Nörgelei abtun, denn «im Nachhinein weiss man immer alles besser». Zudem hatte die Regierung wichtigste Entscheide in einer völlig ungewissen Situation zu treffen. Epidemiologen und Virologen schienen die einzigen zu sein, die über jene Portion Corona-Wissen verfügten, dem man vertrauen konnte. Fast wie damals, als die wenigen Royal Airforce-Piloten mit ihren «Spitfires» 1940 die «Luftschlacht über England» gewannen und damit ihr ganzes Volk vor der deutschen Invasion bewahrten, hing der «Kampf gegen Covid» von den Erkenntnissen, Analysen und Empfehlungen einer kleinen Zahl wissenschaftlicher Spezialisten ab. Und das nicht nur in der Schweiz. Aber verdienen sie das gleiche Lob wie seinerzeit die britischen Piloten von Churchill?
Immerhin erfüllten Epidemiologen und Epidemoiologinnen eine wichtige Pilotfunktion: Rechtzeitig benannten sie die beiden Hauptrisiken von Covid-19: die mögliche Ausbreitung als Pandemie und das erhöhte Sterblichkeitsrisiko im Vergleich zu bisher bekannten Grippe-Viren. Sie warnten die Behörden und wurden gehört. Diese liessen täglich die Zahl der positiv Covid-19 Getesteten erheben sowie der im medizinischen Corona-Umfeld Verstorbenen. Tag für Tag wurden die beiden Zahlen von Amtsstellen und Medien publiziert. Was nun konnte als Alarm wirksamer und furchterregender sein als die ansteigenden Kurvenverläufe zu Corona-Krankheit und Tod in allen Ländern weltweit, wie sie von der John’s Hopkins University jeden Tag vielfarbig im Internet verbreitet wurden?
Gelassen, weil in vorgerücktem Alter, begann ich über das «Sterblichkeitsrisiko» zu philosophieren: Eigentlich ein falscher Begriff, dachte ich, denn nichts ist so gewiss wie die Tatsache, dass ich den grössten Teil des Glases bereits getrunken habe. Ungewiss ist nur die Frage, wie viele Jahre mir noch bleiben. Als Sozialwissenschaftler jedoch war ich von Anfang an entsetzt: Wie konnte man mit der Verbreitung von zwei völlig irreführenden Indikatoren die halbe Welt in Schrecken versetzen? Denn als «Corona-Tote» bezeichnete man sowohl «wegen» oder «mit» Corona Verstorbene. Und wenn schon «Tote»: Wäre da nicht der Vergleich mit den Todesfällen der Gesamtbevölkerung in Grippe-Perioden der Vorjahre der einzige einigermassen verlässliche Indikator: die sogenannte «Übersterblichkeit»?
Noch irreführender war die Zahl der «Positiv-Getesteten» als Indikator für den Fortschritt der Pandemie. Damit wird eher die Zahl der durchgeführten Tests gemessen als diejenige der Infizierten – wenigstens solange als die Zahl der Getesteten steigt und die Auswahl der Probanden nicht zufällig ist, sondern von Corona-Verdachtsmomenten oder Risikoexposition bestimmt ist.
Wie also konnten zwei irreführende Indikatoren auch die Schweiz in ihre «ausserordentliche Lage» versetzen? Meine erste Erklärung ist politisch: Der Bundesrat trug – nach dem das Parlament Mitte März abgeschlichen war – die alleinige Verantwortung für sämtliche Massnahmen. In einer Situation voller Ungewissheit beeindruckten wachsende Zahlen über «Infizierte» und «Tote» wohl mehr als alle Worte; sie durch die Krisenleitung anzuzweifeln wäre gegen die politische Vernunft gewesen, hätte die Öffentlichkeit verunsichert und dem Vollzug der angeordneten Massnahmen womöglich geschadet. Dass die Zahlen das «wirkliche» Ausmass der Pandemie über- oder unterschätzten, durfte keine Rolle spielen. Und so kamen Wissenschaftler mit anderen Fachbeurteilungen – vor allem auch kritische Volkswirtschaftlerinnen oder Juristen – gegenüber den meinungsführenden Epidemiologen nicht zum Zug: Diese dominierten die Problemdefinition der Pandemie nicht nur zu Beginn des Prozesses, sondern auch während des gesamten Krisenmanagements. Das gab einer ebenso alten wie falschen Idee neuen Auftrieb: Dass «die» Wissenschaft die eine, richtige, gar einzig richtige Antwort auf neue Fragen finde. Das musste die Krisenpolitik freilich nicht beschäftigen.
Wenn die irreführenden Indikatoren auch von vielen Fachleuten kaum infrage gestellt wurden, so gibt es einen inner-wissenschaftliche Grund dafür. Von klinischen Forscherinnen ist bekannt, dass sie mit einem anderen Begriff von «Repräsentativität» arbeiten als Sozialwissenschaftlerinnen. Für Kliniker, welche die therapeutische Wirkung eines neuen Medikaments für eine seltene Krebsart aufklären, ist eine Untersuchung der Gesamtbevölkerung nicht zielführend. Aussagekräftiger ist ein Sample, das nur die Träger von Merkmalen dieser bestimmten Krankheit umfasst. Anders in der Sozialwissenschaft. Um etwa in Wahlstudien zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen, ist auch das Verhalten der Nichtwählerinnen und -wähler zu untersuchen. Soweit ich das beurteilen kann, haben die tonangebenden Epidemiologen in ihren Modellen mit der Repräsentativität der Kliniker gearbeitet – also mit der kleinen Gruppe derjenigen, die – nach stets wechselnden Kriterien – Zugang zu Corona-Tests hatten. Die Devise «testen, testen, noch mehr testen» hätte am beschränkten Prognoseerfolg der Modelle nichts geändert. Denn wie vor allem Volkswirtschaftlerinnen monierten: Epidemien sind gesamtgesellschaftliche Phänomene, und an ihrer Untersuchung durch repräsentative Untersuchungen der Gesamtbevölkerung führt kein Weg vorbei.
Kommt ein weiteres Problem dazu: Von «den» Epidemiologen zu sprechen ist ungenau. Denn zu den Fragen der Todesursachen von Corona, der Übersterblichkeit und der Verbreitung der Pandemie gab es eine heftige und kontroverse Diskussion unter Fachleuten, die täglich im Internet zu verfolgen war. Sie schätzten Corona und die Gegenmassnahmen unterschiedlich ein. Warum dissidente Stimmen auch in den meisten Ländern kaum Gehör fanden, mag ähnliche politische Gründe gehabt haben wie in der Schweiz. Dass aber auch die Mainstream-Medien prominente kritische Stimmen – in der Schweiz etwa diejenige der Virologin Karin Moelling oder von Beda Stadler – über den Höhepunkt der Krise hinaus unbeachtet liessen oder ausfilterten, halte ich für problematisch. Die einseitige Medien-Berichterstattung samt den Versuchen, Kritiker insgesamt als «Verschwörungstheoretiker» zu denunzieren, ist unverzeihlich. Sie verletzt die Medien-Grundsätze der Unabhängigkeit wie des «audiatur et altera pars».
Für beide Probleme wären künftig Lösungen bereitzustellen: Vielleicht transdisziplinäre Beratungsstäbe und Gefässe, in denen kontrovers nachgedacht werden darf?
«Wann wird Wissenschaft politisch relevant»? Frühe Fallstudien dazu haben den Politologen Dieter Freiburghaus zu nach wie vor interessanten Thesen geführt. Danach wird Forschung nur in zwei von vier Phasen des politischen Prozesses stark beachtet: ganz am Anfang, wenn ein neues Problem zu definieren ist, und am Schluss, wenn in der erfolglosen Umsetzung niemand weiterweiss. In der zweiten Phase, der Entwicklung von Politikprogrammen, ist die Stimme der Wissenschaft gegenüber den Interessengruppen sekundär. Und in der dritten Phase der politischen Entscheidung, wenn die Auseinandersetzungen und Konflikte ihren Höhepunkt erreichen, sollten Wissenschaftler in Deckung gehen; ihre Stimme wird dann nur als Munition auf beiden Seiten verwendet.
Auch für die Wissenschaft war die Corona-Krise eine ungewohnte Situation, weil sie unvermittelt für alle vier Phasen des Freiburghaus-Modells beansprucht wurde, die zudem gleichzeitig stattfanden. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in «ausserordentlicher Lage» ist darum Neuland und gehört künftig als Fragestellung in jedes Forschungsprogramm zur Corona-Pandemie. Das Risiko, dass wissenschaftliche Erkenntnisse politisch und medial für sachfremde Zwecke gebraucht – und auch missbraucht – werden, ist erheblich. Gerade darum sollten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch in «ausserordentlichen Lagen» die Grenzen ihres Wissens und das Prinzip des «systematischen Zweifels» nicht vergessen und in die Öffentlichkeit tragen. Wie sie sich gegenüber einseitiger Medienberichterstattung einstellen, ist jedoch keine Forschungsfrage, sondern eine der Zivilcourage.