Die Spezialisierung in der Medizin und Polymorbidität erhöhen Komplexität und Kosten

Vor 100 Jahren waren die medizinischen Möglichkeiten sehr begrenzt und entsprechend fehlte die Vielfalt von Fachgebieten. Die Chirurgie entwickelte sich aus der Kriegsmedizin, und erst die Entdeckung des Lachgases ermöglichte erfolgreich grössere Operationen. Eine unaufhaltsame Spezialisierung begann. In der Medizin war es ähnlich. Im Laufe der Zeit spalteten sich Spezialitäten ab. Aktuell können in der Schweiz 46 Facharzttitel erworben werden, bestätigt nach mehrjähriger Weiterbildung mit einem eidgenössischen Diplom. Die Spezialisierung geht aber stetig weiter.

Heute dokumentieren so genannte „Schwerpunkte“ oder Fähigkeitsausweise nach entsprechender Weiterbildung die Zusatzexpertise. Als Beispiele seien die Kardiologie, Frauenheilkunde oder Orthopädie genannt. Es gibt den Allgemeinkardiologen mit sechs Jahren Weiterbildung. Die Erweiterung der Expertise kann die Rhythmologie beinhalten, Kathetertechniken bei Herzkranzgefäss-Erkrankung, wenig invasive Klappenbehandlung oder die kardiale Rehabilitation. Rhythmusstörungen können mit Herzkathetern „verödet“ und dadurch geheilt werden. Anstelle einer Bypass-Operation lassen sich enge Stellen am Herzkranzgefäss aufsprengen und mit Stents offenhalten. Ohne chirurgische Eröffnung des Brustkorbes lassen sich Herzklappen wenig belastend über die Hauptschlagader (Aorta) reparieren und ersetzen, auch bei Patienten in fortgeschrittenem Alter. Dass all diese Methoden sehr anspruchsvoll zu lernen sind, verwundert niemanden, und so ist verständlich, dass sich Fachleute auf eine oder vielleicht zwei Methoden fokussieren müssen. In der Frauenheilkunde gibt es die Spezialisten für die Brustkrankheiten inkl. plastische Behandlungen (z.B. Brustaufbau bei Krebs), die Chirurgie des kleinen Beckens (oft Tumorchirurgie), die Geburtshilfe und künstliche Befruchtung. In der Orthopädie sterben die Allrounder mehr und mehr aus und werden durch Experten für Schulter-, Hüft- und Kniegelenk sowie Wirbelsäule ersetzt.

Es braucht keine besondere Erwähnung, dass sowohl die Spezialisierung (Weiterbildungsdauer, eingeschränktes Zuständigkeitsspektrum) als auch die Erweiterung des medizinischen Angebotes ökonomische Auswirkungen haben und sich die medizinische Versorgung weiter verteuern wird. Die Fragmentierung der Medizin bedeutet, dass der regulären Weiterbildung zum Facharzt, zur Fachärztin mit eidgenössischem Titel eine weitere zeitaufwändige Subspezialisierung angeschlossen werden muss. Dabei müssen Aspekte anderer Fachgebiete vernachlässigt werden.

Es besteht damit die Gefahr, relevante Befunde und Begleiterkrankungen zu verpassen. Unter Umständen werden diese dann aber den Verlauf (Morbidität und Mortalität) bestimmen und nicht die primäre Intervention. Insbesondere mit zunehmendem Alter nimmt die Polymorbidität (mehrere relevante Krankheiten gleichzeitig) und somit dieses Risiko zu. Von den über 80-Jährigen haben in einer Hausarztpraxis 65% drei oder mehr Krankheiten, die behandelt werden müssen! Polymorbidität und Spezialisierung sind Komplexitätstreiber. Insbesondere die hospitalisierten Patienten werden heutzutage oft von mehreren (Sub-)Spezialisten betreut. Je grösser die Zahl involvierter Ärzte, die Teilentscheidungen treffen, desto grösser die Gefahr, dass sich niemand für den ganzen Patienten zuständig, d.h. verantwortlich fühlt [1]. Fehlende Berücksichtigung der Ko-Morbidität und fehlende Koordination bringen den Patienten unter Umständen in grosse Gefahr, abgesehen von unnötigen Kosten.

Die erwähnte Aufsplitterung praktisch aller medizinischen Fachgebiete lässt die Frage aufkommen: Bereitet das heutige Studium Humanmedizin die Studierenden richtig auf die beruflichen Herausforderungen vor? Braucht es Anpassungen wie bei den Ingenieuren, bei denen bereits während des Studiums eine Weichenstellung stattfindet? In der Medizin könnten mindestens fachspezifische Vertiefungsmodule sinnvoll sein. Bezüglich der aktuellen Weiterbildungsprogramme stellt sich dieselbe Frage: Sind sie noch zeitgemäss oder sollten sie nicht unterschiedliche Wege einer Subspezialisierung ermöglichen? Im Rahmen von Anpassungen ans Arbeitsgesetz hat die Zunahme des Ärztebedarfes nicht mit der Zunahme der Patientenzahlen Schritt gehalten. Algorithmen und SOPs (Standard Operating Procedures) resp. Skill-Lab helfen bis zu einem gewissen Grad, fachliche Expertise zu erreichen, können aber kaum Komplexität und Komplikationen-Management ersetzen.

Der Generalist im ambulanten und stationären Setting, der Spezialist fürs Komplexe, ist unabdingbar. Er löst die Probleme, die keines Spezialisten bedürfen, hält die „Fäden zusammen“, koordiniert, informiert und steuert den Patienten, die Patientin durchs Gesundheitssystem. Ob allerdings all diese Anforderungen in einem Weiterbildungsprogramm abgedeckt werden können, resp. die kommende Generation an diesen Aufgaben interessiert ist, wird sich zeigen. Vielleicht braucht es auch neue Berufe?

Letztlich wollen wir alle eine qualitativ ausgezeichnete, medizinische Versorgung der Bevölkerung. Und deshalb sind Anpassungen notwendig.

 

[1] The Bystander Effect in Medical Care, R.R. Stavert, J.P. Lott. N.E.J.M 368:8-9; 2013