Expertise und Impertinenz

Unter Beschuss. Einst galten sie als Helden der Wissensgesellschaft (…): die Experten.1

Ingenieure dringend gesucht 2

Doch was ist der Staat anderes als die Klasse besoldeter Experten und Kontrolleure? 3

In nur einer einzigen Ausgabe einer überregionalen Sonntagszeitung findet sich in gleich drei Artikeln eine tiefe Sorge um die Experten und Expertinnen.4 Was ist da passiert? Sind sie eine bedrohte Art? Das sind sie allerdings. Im Zuge der weltpolitischen Gefügeverschiebungen sind Experten von Populisten beschädigt worden.

Daran sind die Experten und Expertinnen nicht ganz unschuldig. Die Häufigkeit, mit der Professorinnen und Professoren, die gemeinhin als Experten und Expertinnen gelten und neben anderen selbsternannten oder durch Lebenserfahrung gewordenen Experten durch die Fernsehkanäle und die Kolumnen geistern, ist fatal. In vielen Fällen sind sie zu wahren „Für-Sprechern“ degradiert. Sie bestätigen in der Regel die kritische Haltung eines Reports oder die vermutlich positive Wirkung einer politischen Aktion.

Experten und Expertinnen sind aber dazu da, grundsätzliche Kritik zu üben. Kritik zu üben heisst, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Das nach bestem Wissen und Gewissen ist ihre Aufgabe. Worum geht es da? Um Neues: „Zuerst hat das Neue eine oder mehrere Expertenrunden zu überstehen, bevor es an die allgemeine Öffentlichkeit treten kann. Experten finden sich beim Ausarbeiten eines Forschungsantrags, einer Diskussion, beim Vortrag im Forschungskolloquium, bei der Selektion für einen Hauptvortrag, bei einer Tagung und natürlich schon beim Gespräch mit Doktorvater oder -mutter. Das Neue stößt dabei auf Probleme, die in einer grundlegenden Eigenschaft des Expertentums liegen. Was macht einen Experten zum Experten? Seine Fähigkeit zu kategorisieren.

Jedoch liegt der Experte im Widerstreit mit seiner Person. Es wird ihm kaum gelingen, seine emotionelle Bindung an sein Expertenwissen aus der Beurteilung zu verbannen. Objektivität braucht den Willen bestimmte Erfahrungen, Meinungen, Urteile auszuschließen, und greift damit auf dieselbe emotionelle Kraft zurück, deren sie sich entledigen möchte. Absolute Objektivität wäre unmenschlich im wahrsten Sinne des Wortes. Das impliziert, dass der Experte versucht, das über die Grenzen seines Expertenwissens womöglich hinaus schwingende Neue, in einer Pendelbewegung in das Zentrum seines Wissens und seiner Erfahrung zurück zu führen.

Dieser Mechanismus bleibt grundlegend und ergibt sich aus einer Struktur, die Ludwik Fleck in einem Aufsatz 1929 wie folgt charakterisiert hat:

Denn die Naturwissenschaft ist die Kunst eine demokratische Wirklichkeit zu formen und sich nach ihr zu richten – also von ihr umgeformt zu werden. Es ist eine ewige, vielmehr synthetische als analytische, nie fertig zu machende Arbeit, ewig wie die Arbeit des Stromes, der sein Bett formt. Das ist die wahre, lebendige Naturwissenschaft. Das Schöpferisch-synthetische und das Sozialhistorische an ihr darf man nicht vergessen.5

Die Wissenschaft selbst formt ihre Exponenten und diese formen die Wissenschaft. Selbstbezügliche, autopoietische Prozesse wie diese sind wesentliche Aspekte chaotischen, nicht-linearen Verhaltens und lassen in der Öffentlichkeit ein ambivalentes Bild – wie Fleck (und nicht nur er) weiter schlussfolgert – von Wissenschaft entstehen: „Das klar geordnete, von logischen Schlüssen und durch sie folgende Handlungen geleitete, sowie im Gegensatz dazu ein vorab unorientiertes, versuchendes, ertastendes, emotionell spielerisches Vorgehen wissenschaftlicher Tätigkeit.“6

Wenn auch, unzulässiger Weise, Wissenschaft und Naturwissenschaft im obigen Zitat gleichgesetzt sind, dann aus dem Grund, die Selbstbezüglichkeit der Wissenschaften als generellen Prozess zu schärfen.

Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist eine Pflicht, sich öffentlich zu widersprechen. Die Erwartung an Experten und Expertinnen einen Irrtum ebenso klar zu veröffentlichen wie den Beleg einer Theorie, oder die Änderung der Kategorie eines Ereignisses. Hier stimme ich den Sorgen zu. Einerseits dient der Kampf die eigene Objektivität öffentlich zu machen, selten der Reputation. Andererseits wird eine affirmative Haltung den Tod der Experten bedeuten, ob Doktorierende oder Dozierende. Sie machen sich zum Spielball von Politik und Wirtschaft.1 Auf Experten kann entschuldigend verwiesen werden. Das ist seit alters her eine Gefahr, die nun lawinenartig anwächst.

Das abwertende Gehabe gegenüber Experten ist schon in den Jargon eingeflossen und ihre „Handlangerrolle“ gilt Einigen als bereits vollzogen: „Er brauche heute Experten aus fünfmal mehr Wissensgebieten als noch vor 25 Jahren, als er mit seinem Unternehmen anfing (sagt Dyson, Anm. d. Autors).“ Deshalb baut Dyson seine eigene Ingenieurschule auf, an der jene Experten ausgebildet werden, genau die, die er braucht.2

Ebenso – in diesem Jargon – handelt wohl der Staat: „Aber was ist der Staat anderes als die rasch wachsende Klasse seiner besoldeten Spezialisten, Experten, Kontrolleure? (…) Die Hochschulen, ihrerseits mit Spezialisten und Riesenräumen ausgestattet, sind nun deren Berufsschulen.“3

Zweifellos tummeln sich schwarze (hochbezahlte) Schafe auf der Expertenwiese. Doch die jetzige öffentliche, mediale Degradierung der Experten durch populistische Lautsprecher ist ein Problem. Sie zeugt von mangelndem Verständnis, schlampigem Gebrauch der Sprache und falschen Perspektiven. Experten werden mit akademischen Eliten gleichgesetzt, ohne zu beachten, dass so mancher Experte nicht der akademischen Elite angehört. So werden „nicht-akademische“ Experten gar nicht erwähnt. Und dies trotz Hype der Citizen Science! Vogelbeobachter und Schachspieler, Mineraliensammler und Modellbauer, Computerbastler und Craft-Bierbrauer als wenige Beispiele sind Amateure und oft Autodidakten, denen wohl niemand Expertentum absprechen wird.

Die „akademischen“ Experten und Expertinnen täten gut daran sich mit den Amateuren zu verbünden, geeignete Schnittstellen zu schaffen, um in allen Bereichen kritisch zu denken und die Schauspieler von den Experten und Expertinnen zu trennen.

Damit werden weniger Experten und Expertinnen öffentlich auftreten, aber mehr solide Expertisen ihren Weg in Politik und Wirtschaft finden.

 

1 NZZ am Sonntag , 14. Oktober 2018, S. 20

2 NZZ am Sonntag , 14. Oktober 2018, S. 26

3 NZZ am Sonntag , 14. Oktober 2018, S. 33

4 NZZ am Sonntag , 14. Oktober 2018

5 Hans-Jörg Rheinberger (2005): Ludwik Fleck und die Historizität wissenschaftlichen Wissens. Collegium Helveticum Hefte. H. 1, S. 30. Darin zitiert nach: Ludwik Fleck: Zur Krise der Wirklichkeit. Die Naturwissenschaften 17 (1929), S. 426

6 Gerd Folkers (2013): Freiheit in der Forschung. Pharmazie 68: 506–520