«Innovation kennt keine Landesgrenzen»
In unserem Blog werden in lockerer Folge Ratsmitglieder porträtiert, die dem SWR seit 2020 angehören.
Anna Valente entwickelt an der Tessiner Fachhochschule SUPSI einen Industrieroboter, der Menschen riskante Arbeiten in rauer Umgebung abnehmen soll. Ein grosser Teil ihrer Forschung wird von der EU gefördert, die ihr jüngst einen Innovationspreis verlieh. Die aus Italien stammende Ingenieurswissenschaftlerin arbeitet mit Forscherinnnen, Forschern und Unternehmen aus verschiedenen Ländern zusammen. Nur im Austausch entstehe Fortschritt, sagt die 39-Jährige, die seit diesem Jahr neu im Schweizerischen Wissenschaftsrat mitwirkt.
Wie fühlt es sich an, in schwindelerregender Höhe zu arbeiten? In feuchtem, dunklem Untergrund? Oder auf offenem Meer, Wind und Wetter ausgesetzt? Das versuchte Wissenschaftlerin Anna Valente im Kontakt mit Industriebetrieben nachzuvollziehen. Denn sie forscht an einem Roboter, der Menschen solche risikobehafteten Tätigkeiten in extremer Umgebung künftig abnehmen soll. Dabei will sie von den ganz konkreten körperlichen und mentalen Erfahrungen der Mitarbeiter ausgehen: «Das sind harte Jungs», sagt die Professorin für Industrierobotik an der Tessiner Fachhochschule SUPSI.
Valente tauscht sich immer wieder mit Industrievertretern über den Forschungsstand aus. Das Feedback lässt sie in die Gestaltung des Roboters einfliessen. «Uma» heisst er, das steht für «universal maintenance automate of in-situ-operation». «Uma» soll robust, klug und flexibel sein. Er inspiziert schwer zugängliche Metalloberflächen nicht nur, sondern repariert Korrosionsschäden gleich auch noch autonom. Das sei ein grosser Entwicklungsschritt, sagt die Forscherin. Der Roboter könne löten und Oberflächen mit diversen Technologien beschichten: «Er ist vielseitig und führt Tools je nach industrieller Anwendung mit sich.»
Roboter fährt steil aufwärts
Speziell an «Uma» ist, dass er unter anspruchsvollen Bedingungen funktioniert. Der Roboter hält Temperaturen zwischen -20 und +35 Grad aus. Wasser, Salz und Wind können ihm wenig anhaben. Wie ein Raupenfahrzeug erklimmt er vertikale Oberflächen, dank fester Haftung auch dann, wenn sie rutschig sind. Einen ersten Prototyp des Roboters entwickelte Valente im europäischen Forschungsprojekt 4D-Hybrid, dessen technischen Teil sie leitete. Ihr Team in Manno bei Lugano arbeitete dabei mit Forschenden und Unternehmen aus Italien, Grossbritannien, Deutschland und den USA zusammen. Auch Schweizer Firmen waren beteiligt. Das EU-Projekt ist inzwischen abgeschlossen, die Entwicklung des Roboters geht weiter.
Dieser soll auf Offshore-Gas- und Ölplattformen, in Windparks, Kraftwerken sowie in der Luft- und Schifffahrtsindustrie zum Einsatz kommen. Auch Baustellen und Tunnels sind mögliche Orte. Mit dem Roboter dürften sich Reparaturkosten senken lassen. Gesellschaftlich wird diskutiert, ob Roboter den Menschen Arbeit wegnehmen. «Uma» ist laut Valente ein anderer Fall. Er erhöhe die Sicherheit am Arbeitsplatz: «Es wird nicht mehr nötig sein, Mitarbeiter in Gefahren zu schicken.» Der Roboter lasse sich vom Kontrollraum aus steuern. Und der Mensch könne sich auf das konzentrieren, was er der Maschine stets voraushaben werde: geistige Fähigkeiten, Multitasking, komplexe Entscheide treffen.
Schweiz: Wille zu Innovation spürbar
Die Robotikforschung des Südschweizer Fachhochschulteams – drei Frauen, 22 Männer – fiel auch der Europäischen Kommission auf. Sie verlieh Anna Valente letztes Jahr einen prestigeträchtigen Innovationspreis, dazu noch einen Preis für Innovation unter der Leitung von Frauen. Die ausgezeichnete Ingenieurin nennt das 4D-Hybrid-Projekt beispielhaft: «Forschung braucht Netzwerke», macht sie deutlich, «nur so kann Fortschritt entstehen.» Ihr gefällt, dass in der Robotikforschung neben Ingenieuren und Informatikern auch Sozialwissenschaftler mitwirken. Dazu komme der Austausch mit internationalen Firmen. Das sei alles sehr bereichernd, «ein permanenter Anstoss, zu lernen und zu wachsen.»
Anna Valente promovierte in Fertigungstechnologie am Mailänder Polytechnikum und zog 2012 in die Schweiz. Hier wurden ihre Kompetenz und ihr Drive rasch erkannt, nicht nur an der SUPSI, wo sie junge Ingenieurinnen und Ingenieure ausbildet. Bei Innosuisse, der Agentur für Innovationsförderung, begutachtet sie Gesuche. Eine Fachjury reihte die Italienerin unter die «Digital Shapers» ein, die hundert wichtigsten Personen, die die Schweiz digital voranbringen. Man spüre hier die Technik-Tradition, anerkennt die Robotikforscherin: «Der Wille zur Innovation ist riesig.»
Die EU-Bürgerin und die Begrenzungsinitiative
Am 27. September wird in der Schweiz über die Begrenzungsinitiative abgestimmt. Das Volksbegehren will die Personenfreizügigkeit mit der EU beenden. Mitentscheiden kann Anna Valente nicht, die Debatte verfolgt sie trotzdem mit grossem Interesse – als EU-Bürgerin in der Schweiz, als Wissenschaftlerin. Sie könne lediglich aus ihrer eigenen Erfahrung sprechen, betont sie. Und diese zeige: «Innovation kennt keine Landesgrenzen.» Der freie Personenverkehr ermögliche Unternehmen, qualifizierte Fachkräfte zu rekrutieren, und Hochschulen, helle Köpfe anzuziehen. Dies frei und mobil, unbürokratisch und unkompliziert. «Unser Land», sagt Valente über die Schweiz, «bietet und braucht Exzellenz».
Es sei ein «gesunder Kreislauf», der bei weitem nicht nur der Wirtschaft und der akademischen Welt diene. Technologischer Fortschritt, etwa in der Medizintechnologie, komme der ganzen Gesellschaft zugute, betont Valente. Bei einem Wegfall der bilateralen Verträge würde die Schweiz riskieren, von europäischer Forschungsförderung abgeschnitten zu werden. Davon wäre auch Valentes Forschung betroffen, die mehr als zur Hälfte aus Mitteln der EU finanziert wird. Die EU-Gelder ergänzten die Instrumente der Schweizer Forschungsförderung strategisch, sagt sie.
Teamkollege Roboter
Am Forschungsfeld Industrierobotik fasziniert Anna Valente, dass es Fertigungstechnologie und Robotik kombiniert: «Meine beiden Leidenschaften.» Sie sieht Potenzial über die Automatisierung von Abläufen hinaus. Hochentwickelte Roboter könnten dereinst «zu Teamkollegen werden, denen Menschen vertrauen.» Würde zum Beispiel ein Roboter Müdigkeit und Stress erkennen, liessen sich Arbeitsunfälle vermeiden. Erledigt der Roboter die anstrengenden Aufgaben, ist körperliche Stärke kein Kriterium mehr. Das eröffne bestens qualifizierten Frauen und Ingenieuren mit Behinderung Betätigungsmöglichkeiten in der Industrie, sagt Valente: «Dazu will ich in meinem Forscherleben gerne beitragen.»
Anna Valente ist Leiterin des Labors für Automation, Robotik und Maschinen am Departement Innovative Technologien der Tessiner Fachhochschule SUPSI.
Stellungnahme des Schweizerischen Wissenschaftsrates zur Begrenzungsinitiative