Reisen im Zwischenraum

Interdisziplinarität. Ein Schlagwort macht sich selbstständig. Kaum eine wissenschaftliche Zeitschrift, die nicht zur „Interdisziplinarität“ einlädt, von anderen „Disziplinaritäten“ als neuen Wortschöpfungen ganz zu schweigen. Man wird den Verdacht nicht los, dass neue akademische Räume erschlossen werden, gleichsam aus den Faltungen der Disziplinen hervorbrechend, die der Besiedelung harren und von deren „terra incognita“ zwischen den Disziplinen Wunderdinge und Reichtümer zu erwarten sind. Allen Erwartungen voran: Innovation. Diese gesamte Denkfigur – in unbekannten Territorien Neues zu entdecken und das Neue nutz- und gewinnbringend zuhause anzuwenden – reiht sich perfekt in die Geschichte der Expeditionen ein. Ob Humboldt Pflanzen, Vögel und Mineralien in Südamerika sammelte, oder Adolf Traugott zu Gersdorf seine Schweizerreise mit einem „schweizerischen“ Mineralienkabinett dokumentierte, unerforschte Gebiete bergen die Chance auf gewinnbringende Erkenntnisse. Reisen in die Zwischenräume der Disziplinen spielen sich ähnlich ab wie Expeditionen.

 

Probleme entstehen jenseits von Disziplinen

Zuerst sind sie ein Gedankenspiel, dann brauchen sie gewaltige Vorbereitungen, wegen der Angst zu scheitern. Ein Gefährte ist hilfreich bis notwendig (wird er später genannt werden?) und natürlich gilt es Mittel zu beschaffen, bevor sich die Reisepläne realisieren lassen. Diese gesamte Metaphorik ist natürlich einfach übersetzbar: Zentrale Probleme, für die unsere Gesellschaft nach Lösungen sucht, wie beispielsweise die Klimaerwärmung, entstehen nicht nach Disziplinen geordnet. Es ist daher notwendig, die Disziplinarität den Problemen anzupassen, zu erkennen wo und wann disziplinäre Grenzen überschritten werden müssen und angestammte akademische Herrschaftsgebiete zu verlassen sind, um zu neuen Lösungsansätzen zu gelangen. Ideen sind gefragt, die sich nicht mehr automatisch in der eigenen Disziplin generieren lassen. Schon die Formulierung des Problems bedarf in vielen Fällen eines Partners von jenseits der Disziplingrenzen, denn wer nur einen Hammer sein Werkzeug nennt, dem werden alle Probleme zu Nägeln.

 

Interdisziplinarität erfordert Freiräume – und Geld

Eine Reise in unbekannte Gegenden ohne einen landeskundigen Partner gestaltet sich oft schwierig und mühselig. Je früher man also ein vertrauensvolles Gegenüber in der anderen Disziplin findet, umso leichter wird der Austausch über das „Neue“. Beide Partner müssen sich mit den kollektiven Erfahrungen ihrer Disziplinen im Hintergrund dem zu formulierenden Problem in mehreren Anläufen nähern, Kompromisse schließen, sich gegenseitig neue Perspektiven eröffnen, Semantiken erläutern und schliesslich eine Wortwahl treffen, die beidseitig verstanden wird. Das braucht Zeit und Raum. Übersetzt in die akademische Praxis heisst das: Geld. Ob man diese Notwendigkeit anerkennt oder nicht, Geld schafft Freiräume (Zeit und Raum), die es den Akteuren erlauben, Ideen zu verfolgen, deren Nützlichkeit noch nicht unmittelbar erkennbar ist.

Die Expedition als solche bleibt ein Experiment. Ihr mögliches Scheitern ist ein integraler Bestandteil. Jede nachträgliche Umwidmung eines Scheiterns – oft aus budgetären Gründen praktiziert – verhindert das Lernen aus interdisziplinären Kooperationen.

Das Ziel einer jeden Forschungsreise muss die Publikation sein. In welcher Form diese geschieht, ist unerheblich, ob als Patent, als Start-up oder im „High-level-Journal“. Der wissenschaftlichen Gemeinde gilt es, zu deren Nutzen die Erfahrungen mitzuteilen.

 

Die Digitalisierung als Quantensprung

Hilfreich für jede Reise ist ein Reiseführer mit Wörterbuch, heute ein (virtual) guide und ein smartphone translator. Hier beginnt für mich die durch die Digitalisierung ausgelöste Transformation, der neue „Quantensprung“. Jeder menschliche Führer und Dolmetscher, der hinter den Wörterbüchern und bebilderten Reiseführern steht, ist zweifellos voll von kollektiver Weisheit. Wir schätzen subtile Hinweise auf unangebrachte Sitten, problematische Nahrungsmittel, versteckte Kunstschätze. Die Erfahrung des Guides ist jedoch winzig im Vergleich zu den virtuellen Führern von heute. Kritikaster bemängeln die schlechte Übersetzung der elektronischen Assistenten. Wenn aber mein Smartphone aus verschiedenen asiatischen Sprachen mittels Schrifterkennung so viel übersetzt, dass der Reisende seinen Weg findet, ist das eine absolut erstaunliche Leistung, ein Quantensprung. Man mag darüber sinnieren, welche Elemente alle dazugehören, um vor Ort die oft langfädigen Erläuterungen zu den Exponaten eines Heimatmuseums zu übersetzen.

Wenn Instagram und Verwandte einen neuen Ort finden, dessen Besuch eine besondere Erfahrung verspricht, dann verbreitet sich diese Nachricht in Windeseile und der Ort wird – sehr zum Leidwesen mancher Reisender – zum hot spot. Der erlebt eine reiche, nicht immer positive Kommentierung.

 

Die Barrieren sind im eigenen Kopf

So, in diesen Schritten würde man sich wünschen, sollte Wissenschaft und besonders die Interdisziplinäre betrieben werden. So liessen sich die Barrieren niederreissen, die oft nur aus Dünkel, Unwissenheit, Tradition oder vorauseilendem Gehorsam errichtet wurden. Dafür seien nur beispielhaft genannt:

  • Umfassende Regularien in der akademischen Karriere, beispielsweise für die Verfassung disziplinärer Dissertationen. Wer darf welchen disziplinären Ursprungs welche Thematik wo einreichen?
  • Sakrosankte Vorgehensweisen und Methodiken der einzelnen Disziplin
  • Kognitive Konzepte und Vorurteile
  • Der etablierte Jargon einer Disziplin
  • Die ritualisierte Publikation

Interdisziplinarität beginnt im eigenen Kopf. Es gilt, sich einer anderen Denkweise, eines fremden Denkstils auszusetzen, wie es der Wissenschaftstheoretiker Ludwig Fleck schon 1935 beschrieben hat. Dies setzt Neugier und vor allem Kritikfähigkeit voraus, die sich zuallererst auf die eigene Disziplin richtet. Denn das ist die ureigenste Haltung der Wissenschaften, die leider zu wenig praktiziert wird.

Dabei gibt es natürlich zahlreiche historische Beispiele. Um meine Reisemetapher aufrechtzuerhalten, sei hier aus dem Standardwerk der Gletscherforschung zitiert. Der berühmte irische Physiker John Tyndall, dessen akademischer Lebenslauf paradigmatisch für interdisziplinäre Exkursionen sind, schildert Mitte des 19. Jahrhunderts seine Motivation zur näheren Erforschung der Materialeigenschaften von Schiefergestein eigentlich als ganz banal: „When, however we look closely into this bold and beautiful hypothesis, we find that the only analogy which exists between the physical structure of slate rocks and of crystals is this single one of cleavage. Such a coincidence might fairly give rise to the conjecture that both were due to a common cause, but there is great difficulty in accepting this as a theoretic truth.“

Ihm leuchtet die Erklärung großer Vertreter der eigenen Profession nicht ein. Deshalb hinterfragt er sie, aus guten logischen Gründen, nicht weil er zu diesem Zeitpunkt bereits eine eigene, abweichende Erklärung vorzulegen hätte. Es ist der Startpunkt seiner Reisen in die Alpen und stetem Gedankenaustausch mit den lokalen Experten:

„On Monday the 9th of August, we reached the Riffel, and, by good fortune, on the evening of the same day (…), the well-known Ulrich Lauener, also arrived at the hotel on his return from Monte Rosa.”

 

Die digitale Transformation hilft in fremdem Terrain

Diese Haltung und Pragmatik sind heute ebenso bewundernswert, wie für die meisten von uns nicht mehr machbar. Die Gründe sind evident: Zeit, Raum und verfügbares Geld (siehe oben) in heutigen akademischen Karrieren bemessen sich anders. Ist das ein Grund zum Verzicht und zur Beschränkung auf einen engeren Horizont?

Ich denke nicht, denn nun kommt uns die digitale Transformation zu Hilfe. Machine learning, digital humanities, Künstliche Intelligenz bereiten den Boden, um die disziplinären Barrieren im eigenen Kopf zu überwinden. Denn sie ermöglichen Übersetzungen. Letztere sind, wie aus der Reisemetapher hervorgeht, die wichtigste Voraussetzung dafür, sich mit einem fremden Terrain anzufreunden und dort zu lernen. Sie verhindern, in der eigenen Blase zu reisen und ständig von den eigenen Konzepten umgeben zu sein. Die gigantische Fülle an Übersetzungsleistungen erleichtert mit ihrer virtuellen Struktur unser Zeit- und Raummanagement und senkt damit die Barrieren.

„Found in Translation“ ist folgerichtig auch der Titel eines wissenschaftlichen Aufsatzes über eine lernende Maschine in der komplexen organischen Chemie, einem der unbeliebtesten Schulfächer. Solch eine Maschine vermittelt genau jene kollektiven Erfahrungen einer ganzen Disziplin, die zu einem tieferen Verständnis und zu einer Kritik befähigen, vor allem aber auf eine Exkursion in diese Disziplin vorbereiten und Lust darauf machen können.

Wie jedes Instrument lässt sich auch eine solche Maschine unkritisch bedienen. Sie erzeugt solchermaßen nur Trägheit, Indifferenz, Oberflächlichkeit und fördert die Denkfaulheit. Kritikfähigkeit ist deshalb ein immer bedeutenderes Werkzeug, um in Zukunft zu bestehen und die Interdisziplinarität im eigenen Kopf der wesentliche Schritt. Die Menge der aufzuwendenden Arbeit dürfte sich im Realen und Virtuellen die Waage halten. Aber die Bedingungen für eine Vielzahl von Menschen sind in der digitalen Welt die günstigeren.

 

„Reisen im Zwischenraum“ in: Unternehmen Region Magazin Bundesministerium für Bildung und Forschung, 1/2020, S. 45 – 47