«Die Leute in Japan glauben an die Zukunft, zugleich lieben sie das Retro-Design ihres Internets»

Sara Irina Fabrikant verlässt den Schweizerischen Wissenschaftsrat nach acht Jahren. Die Geografin hat gelernt, dass politische Arbeit viel Geduld und Hartnäckigkeit bedeutet. Jetzt schreibt sie an einem Buch über verbesserten Zugang zu geografischen Informationen auf mobilen Geräten.

Frau Fabrikant, Sie waren massgeblich an der Lancierung der Digital Society Initiative der Universität Zürich beteiligt. Wie kommt das Projekt voran?

Am Anfang war die Initiative nur eine Idee, aber jetzt hat sie das Projektstadium verlassen und ist fest institutionalisiert. In einer kleinen Gruppe fragten wir uns, was eigentlich die Universität unternehme, um die Digitalisierung in der Gesellschaft zu verankern. Mein Kollege ging zu Michael Hengartner, dem damaligen Rektor der Universität Zürich, der ihm entgegnete: Was schwebt euch vor? Also machten wir uns an die Arbeit, und heute können die Studierenden an der Universität Zürich Kurse der Digital Society Initiative belegen und das Digitalstudium sogar als Nebenfach abschliessen. Das ist ein Novum in der universitären Landschaft. Auch der Kanton Zürich hat sich dieses wichtigen Themas angenommen. Die Idee hat also funktioniert.

 

Zurzeit forschen Sie in Tokio. Wie nutzen Japanerinnen und Japaner neue Technologien?

Ich bin immer wieder verblüfft, nur schon die digitale Darstellung und Nutzung der komplexen Schriftzeichen muss eine enorme Leistung sein. Einerseits ist das Leben in dieser Stadt völlig durchelektrifiziert. Fast alles wird elektronisch gesteuert, die Züge starten auf die Sekunde genau, die strombetriebenen Fahrzeuge in den Strassen sind kaum hörbar. Das Viertel Akihabara, die «Electric Town», ist vollgestopft mit elektronischen Geräten, man findet hier sogar solche aus der Anfangszeit der Digitalisierung. Andererseits ist Japan nicht nur eine geografische, sondern auch eine digitale Insel. Auf ihr funktioniert alles perfekt, doch die Verbindungen nach aussen sind fragil. Sie laufen vor allem über das Englische, das nicht sonderlich verbreitet ist.

 

Wie würden Sie die Eigenheiten dieses Universums charakterisieren?

Japan versucht, für alle Probleme technische Lösungen zu finden, auch für die demografische Herausforderung. Lieber setzt man in der Betreuung der alten Menschen auf Roboter, als dass man die Landesgrenzen öffnen würde für mehr Arbeitskräfte. Japan verfolgt eine andere Politik als westliche Gesellschaften. Auf uns wirken Roboter in Altenheimen nicht sonderlich human, aber das ist unsere Interpretation.

 

Wie weit sind die japanischen Universitäten mit der Digitalisierung?

Ich kann nur für die kleine private Universität reden, an der ich hier arbeite. Ihr Gebäude ist die Verkörperung schlechthin des IoT, des Internets der Dinge. Alles wird über Sensoren gesteuert, von den Sonnenstoren bis zur Zutrittsberechtigung. Wenn ich in meinem Büro das Licht einschalten will, muss ich ins Internet gehen und einen Schalter betätigen. Die Kurse laufen alle digital, auch wenn Lehrende und Studierende sich im selben Raum treffen. Google ist der offizielle Partner der Uni.

 

Ängstigt Sie diese Art von Digitalisierung?

Nein, sie ist vielleicht ambivalent, aber ich erlebe sie in erste Linie als interessant, weil sie für mich neu ist. Bei der einzelnen Person läuft die Digitalisierung über eine Karte, die sie auf sich trägt. Mit ihr komme ich in meine Uni, bezahle im Laden und am Getränkeautomaten und passiere die öV-Schranken. Aber wie lade ich sie mit Geld auf? Nicht digital mit dem Smartphone, sondern indem ich zu einem Automaten gehe und Banknoten in den Schlitz stecke. Innerhalb seiner Grenzen hat die Insel Japan ein universelles System entwickelt. In der U-Bahn sitzen alle Leute vor ihren Smartphones, noch mehr als bei uns, doch zugleich sind in dieser Millionenmetropole das Soziale und die Natur sehr wichtig. Die Leute sind zukunftsgläubig und lieben das Retro-Design ihrer Internetseiten.

 

Sie waren acht Jahre Wissenschaftsrätin. Was nehmen Sie aus dieser Zeit mit?

Ich hatte das Privileg, mit smarten Personen aus unterschiedlichen Wissenschafts- und Innovationskontexten zusammenzuarbeiten, um den Bundesrat beziehungsweise die Gesellschaft in Fragen der Bildung, Forschung und Innovation in der Schweiz zu beraten. Dabei hat mich die fortschreitende Digitalisierung und deren Auswirkungen auf unser Bildungs- und Wissenschaftssystem besonders beschäftigt. Ich nehme als Stärke die Vielfalt unseres Bildungssystems mit und die Diversität, die ein so kleines und mehrsprachiges Land wie die Schweiz hervorbringt. Die «One-fits-all-Strategie», die in anderen Ländern erfolgreich sein kann, ist hier kaum gewinnbringend umzusetzen. Ich nehme auch mit, dass politische Arbeit viel Geduld und Hartnäckigkeit beziehungsweise grosse Resilienz bedeutet. Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren in unterschiedlichen Zeitskalen, die es zu berücksichtigen gilt.

 

Welche Projekte gehen Sie nun an mit der zusätzlichen Zeit, die Ihnen zur Verfügung steht?

Man gibt etwas ab – und schon sind fünf neue Sachen dazugekommen. In der akademischen Welt muss man lernen, nein sagen zu können, damit man am Ende Zeit dafür hat, was für einen wichtig ist und man gerne tut. Mit meinem japanischen Kollegen schreibe ich nun ein Buch darüber, wie wir Benutzerschnittstellen gestalten können, die uns nicht nur raumrelevante Informationen, etwa auf digitalen Karten, zur Verfügung stellen, sondern auch Rücksicht nehmen auf unsere kognitiven Voraussetzungen. Das Design der Google-Landkarten zum Beispiel entspricht nicht unseren Orientierungsbedürfnissen im Raum. Da gibt es noch viel Luft nach oben.

 

 

Sara Irina Fabrikant ist seit 2005 Professorin für Geographie an der Universität Zürich. Sie war Co-Initiantin der UZH Digital Society Initiative. Fabrikant studierte von 1990 bis 1996 Geographie, Geschichte und Kartographie an der Universität und der ETH Zürich. Unterstützt von Rotary International bildete sie sich an der Canterbury University in Christchurch (Neuseeland) in Geographischer Informationswissenschaft (GIScience) und Fernerkundung weiter. 2000 promovierte sie in Geographie an der University of Colorado in Boulder (USA) mit Schwerpunkt GIScience. Nach dem Ruf auf eine Assistenzprofessur am Geographischen Institut der University at Buffalo wechselte sie an das Geographische Institut der University of California in Santa Barbara, wo sie bis 2005 als Assistenzprofessorin im Bereich GIScience und Kartographie lehrte und forschte. 2015 bis 2019 war sie Vizepräsidentin der International Cartographic Association, 2016 bis 2023 Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats.