«Wenn wir ein neues Gebiet eröffnen, müssen wir ein altes aufgeben»

Hans-Joachim Böhm verlässt den Schweizerischen Wissenschaftsrat nach zehn Jahren. Der Chemiker und Informatiker rühmt den Forschungsstandort Schweiz. Unter anderem hier operiert sein deutsches Jungunternehmen.  

Herr Böhm, Sie haben im Schweizerischen Wissenschaftsrat das hiesige Forschungssystem während zehn Jahren beobachtet, analysiert und kommentiert. Funktioniert es gut?

Absolut. Die Schweizer Universitäten haben einen ausgezeichneten Ruf, Industrie und Hochschulen arbeiten bestens zusammen, die Schweiz schneidet in den diversen Innovationsrankings immer sehr gut ab. Darauf kann sie wirklich stolz sein.

 

Auch das beste System weist Schwachstellen auf. Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial?

Eine wichtige Voraussetzung für Spitzenforschung besteht darin, dass Forschende aus dem Inland und dem Ausland, aus Europa und Amerika zusammenarbeiten. Da steht die Schweiz zurzeit vor dem Problem, dass sie nicht mehr an die Forschungs- und Bildungsprogramme der Europäischen Union assoziiert ist. Das Verhältnis zu ihrem wichtigsten Partner ist nicht geklärt. Ein weiteres Thema ist die Berufsausbildung. Wie Deutschland kennt die Schweiz den Fachkräftemangel. Daher sollte sie die Berufsbildung stärken.

 

Sie kennen beide Welten, sowohl die universitäre als auch die private Forschung. Wodurch unterscheiden sie sich?

Die industrielle Forschung ist stark anwendungsorientiert, wobei die Qualität nicht tiefer ist als an den Hochschulen. In der Industrie wissen wir: Wenn wir ein neues Gebiet eröffnen, müssen wir ein altes aufgeben. Wir wissen, dass die finanziellen Mittel begrenzt sind. Mir scheint, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen in der universitären Forschung schwer damit tun, Projekte zu stoppen und ein älteres Forschungsfeld aufzugeben.

Hans-Joachim Böhm war seit 2013 beim SWR, Foto: Alessandro della Valle

Derzeit sind die Geisteswissenschaften unter Druck. Aus der Wirtschaft ist zu hören, diese Fächer seien unnütz und müssten reduziert werden.

Das ist keine gute Idee. Der enorme Aufschwung der Künstlichen Intelligenz zeigt ja gerade, wie wichtig zum Beispiel Sprachwissenschaften plötzlich wieder sind.

 

Sie haben in Deutschland ein Start-up-Unternehmen in Life Sciences gegründet. Was produziert Ihre Firma?

Wir machen strukturbasiertes Design von Molekülen mit vorhergesagter biologischer Aktivität.

 

Das müssen Sie mir jetzt aber erklären.

Ich weiss. Wir machen Pharmaforschung, wir liefern Firmen mögliche Startpunkte für neue Medikamente. Meine kleine Firma durchsucht Molekül-Datenbanken und stellt daraus passende Startpunkte für ein neues Medikament zusammen. Wir entwerfen auch komplett neue Moleküle. Wir haben kein Labor, wir arbeiten ausschliesslich am Computer.

 

Menschen in Ihrem Alter machen Wellness oder spielen Golf, Sie sind passionierter Jungunternehmer. Wie sind Sie dazu gekommen?

Es geht mir nicht ums Geld. Ich wollte mir beweisen, dass ich das noch kann. Ich habe lange als Manager gearbeitet und bin nun zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Meine Laufbahn habe ich als sogenannter Computational Chemist begonnen, jetzt arbeite ich wieder auf diesem Gebiet. Daneben aber bin ich auch als Berater für junge Start-up Firmen tätig, die Hilfe brauchen, um sich im Markt zu etablieren. Ihnen biete ich meine Erfahrung an, sie nehmen meine Dienste gerne in Anspruch.

 

Ist die Schweiz ein attraktiver Standort für neue und innovative Firmen?

Definitiv ja. Nehmen wir zum Beispiel Basel: Die Stadt bietet ein ideales Ökosystem für die Pharmabranche mit zwei grossen Firmen, mittelgrossen Unternehmen, vielen kleinen Start-ups und dem Kanton, der Unternehmen fördert. Zudem finden Firmen hier jede Menge gute Leute, und zwar nicht nur Akademikerinnen und Informatiker, sondern auch Chemie- und Biologielaboranten. Die Saläre sind zwar hoch, aber nicht so hoch wie etwa in Boston in den USA. Es ist einfach, in die Schweiz zu kommen und hier zu leben. Basel kennt keine Fremdenfeindlichkeit. Kurzum, die Schweiz ist ein exzellenter Standort für Start-ups. Zwar ist es nicht einfach, für eine neue Firma nach der Anschubfinanzierung weiteres Kapital aufzutreiben, was die erste Phase schwierig macht, aber das ist nicht nur in der Schweiz so, sondern auch andernorts.

 

 

Hans-Joachim Böhm ist Chemiker, Informatiker und Unternehmer. Bis 2022 war er Titularprofessor für Bioinformatik an der Universität Basel. Er arbeitet an der Entwicklung neuer Methoden zum computergestützten Entwurf von Arzneimitteln. Von 1996 bis 2015 war er bei Hoffmann-La Roche in Basel in der Forschung tätig, von 2006 bis 2008 als Leiter des Roche-Forschungsstandorts in Palo Alto (USA), seit 2008 als weltweiter Entwicklungschef der chemischen Forschung.

Böhm studierte Chemie an der Universität Karlsruhe, promovierte (1984) und habilitierte (1993) dort in Theoretischer Chemie. Von 1985 bis 1987 war er bei Siemens in München in der Mikroelektronikforschung tätig, von 1988 bis 1996 arbeitete er bei BASF in Ludwigshafen mit Schwerpunkt strukturbasiertes Design von Arzneimitteln. Sein Buch über Wirkstoffdesign mit Gerhard Klebe und Hugo Kubinyi erhielt 1999 den Literaturpreis des Fonds der Chemischen Industrie. Böhm war von 2013 bis 2023 Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats.