Auch wenn es nicht blinkt und leuchtet, ist es Innovation

Um die Gesellschaft voranzubringen, braucht es neben Ingenieurs- und Naturwissenschaften auch die Geistes- und Sozialwissenschaften – heute mehr denn je. Doch der Beitrag von Ökonomie, Psychologie, Kunst & Co. zur Innovation bleibt oft unerkannt. Wie lässt sich das ändern? An einer Online-Tagung der Universität Neuenburg und der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften suchten Vertreterinnen und Vertreter der Forschung, der Kreativwirtschaft und der Innovationsförderung nach Antworten.

Eine bahnbrechende Technologie, ein cleveres Produkt: was Ingenieur- und Naturwissenschaften entwickeln, steht gemeinhin für Innovation. Roman Tschäppeler, selbständiger Design- und Trendforscher, sprach von einer «Daniel-Düsentrieb-Vorstellung» des Fortschritts: Ein Erfindergeist tüftelt in der Werkstatt an einem neuen Gerät, wie die berühmte Figur aus den Donald-Duck-Comics. Für jedes Problem findet er eine technische Lösung, an seiner Seite das Helferlein, eine robotisierte Glühbirne. Technische Innovation sei in den Medien leichter darzustellen, sagte Dominique Vinck, Wissenschaftssoziologe an der Universität Lausanne: «Und wenn sie blinkt und leuchtet, ist es noch einfacher.»

Ersinnt hingegen eine Betriebswirtschafterin ein neues Verfahren zur Buchführung, sei das viel weniger sichtbar. Obwohl eine solche Innovation womöglich den Steuerzahler entlastet, weil die öffentliche Verwaltung dadurch Kosten spart. Ebenso wenig wird es als Innovation wahrgenommen, wenn in der Corona-Krise zivilgesellschaftliche Initiativen «wie Pilze aus dem Boden schiessen»: Das konstatierte Ingrid Kissling-Näf, Direktorin des Departements Wirtschaft an der Berner Fachhochschule. Dabei weisen neue soziale Organisationsformen – Nachbarschaftshilfe, Unterstützungsnetzwerke für ältere Menschen – in die Zukunft. Die Gesellschaft altert, findige Versorgungslösungen sind gefragt.

 

Gesellschaftliche Debatten, Unternehmertum

Neues entsteht also auch ausserhalb akademischer Studierzimmer, ausserhalb industrieller Labors. Und auch wenn es nicht blinkt und leuchtet, ist es dennoch Innovation. «Innovation kann an verschiedenen Orten in der Gesellschaft vorkommen», befand Claudia Acklin, Leiterin der Geschäftsstelle des Schweizerischen Wissenschaftsrats. Für sie gehört auch soziale und künstlerische Innovation dazu. Julia Bory vom Start-up-Förderer Venturelab formulierte es deutlich: «Wir müssen wegkommen von der engen Sichtweise zu Innovation.» Doch wie sieht ein erweitertes Verständnis aus? Dem ging ein Autorenteam am Soziologischen Institut der Universität Neuchâtel erstmals systematisch nach.

Die Autoren benennen vier Schlüsselfunktionen, durch die Geistes- und Sozialwissenschaften zu Innovation beitragen: Unternehmertum. Sinn verleihen. Neuerungen gesellschaftlich umrahmen. Und Innovation mitproduzieren. An der Tagung erläuterten die Forschenden, was das konkret bedeutet. Zum Beispiel, dass umwälzende Technologien wie Digitalisierung oder Gentechnik gesellschaftliche und politische Debatten erfordern. Vielleicht auch rechtliche Anpassungen. Dass ohne Management und Marketing keine noch so pfiffige Erfindung auf den Markt gelangt. Dass Wertschöpfung nicht mehr nur in der Produkteherstellung stattfindet, sondern auch in kreativem Branding, Design, Storytelling, in der Kommunikation.

 

Die Sinn-Frage

Auch kommen neue Technologien und Produkte erst in der Gesellschaft an, wenn die Menschen darin einen Sinn erkennen. Das ist mehrheitlich nicht der Fall, weiss Wissenschaftssoziologe Dominique Vinck: «Neun von zehn Erfindungen werden niemals zu Innovationen.» Daniel Düsentrieb, Erfinder des Dunkellichts und des tragbaren Lochs, könnte ein Lied davon singen. In der Globalisierung der 1980er-/1990er-Jahre stiessen vor allem Produkte Innovation an. Das sei jetzt anders, analysierte der Ökonom Olivier Crevoisier. Im Internet reden alle mit: «Innovationsmechanismen sind heute vielfältiger. Sie entstehen als Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen.»

Weil Geistes- und Sozialwissenschaften in der Gesellschaft forschen, erkennen sie laut dem Soziologen Hugues Jeannerat Entwicklungen und ermöglichen Problemlösung. Mehrere Votantinnen und Votanten stützten die Befunde der Neuenburger Studie aus dem Blickwinkel ihres Tätigkeitsbereichs. «Geistes- und Sozialwissenschaften verfügen über ein gesellschaftliches Gespür», sagte etwa Christina Tobler von TA Swiss, der Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung. Lassen Entwickler dies ausser Acht, können sie von ablehnenden Reaktionen in der Bevölkerung überrascht werden. Das zeige aktuell der Widerstand gegen die 5G-Technologie.

 

Neutralität gibts nicht mehr

Digitalisierung, Klimaerwärmung, soziale Ungleichheiten, Pandemien: heutige Innovation wird von grossen Herausforderungen gerahmt. Ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit seien diese nicht zu bewältigen, so der Konsens an der Tagung. Eine Technik zu erfinden, die klimaschädliches CO2 aus der Luft filtert, hält Claudia Acklin vom Wissenschaftsrat immer noch für «wahnsinnig wichtig». Doch genauso wichtig sei es, «das Rätsel zu lösen, warum wir Menschen um die Klimagefahr wissen und trotzdem nur zögerlich unser Verhalten ändern.» Das könne die Verhaltenspsychologie erforschen, oder die Ökonomie. Und vielleicht gibt ein überwältigendes Kulturerlebnis den nötigen Denkanstoss? Kunst rege die Reflexion an, sagte Nora Wilhelm, Mitbegründerin des Netzwerks Collaboratio Helvetica.

Für die junge Initiantin kann Innovation nicht mehr neutral sein. Es gehe um den Schutz des Planeten, das Überleben der Menschheit. Alle Innovation habe auf nachhaltige Entwicklung zu zielen, wie sie in der Agenda 2030 der UNO festgehalten sei. Business-Ziele dürfen laut Wilhelm nicht mehr der einzige Massstab sein: «In ein paar Jahren werden wir schockiert sein, dass wir einmal so viel Mobilität hatten. Oder zwischen ‹fairer› und unfairer Schokolade unterschieden.» Kein Experte, keine Expertin im stillen Kämmerlein könne mit einer Studie die Probleme lösen. Es brauche unentwegten Austausch, das traditionelle System der Forschungs- und Innovationsförderung müsse sich für breite Kreise öffnen.

 

Düsentrieb arbeitet jetzt im Team

Die Studie über das innovative Potenzial der Geistes- und Sozialwissenschaften fand jüngst Eingang in einen Bericht des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation. Ein gutes Zeichen, doch es braucht mehr, wie an der Tagung zum Ausdruck kam. Obwohl die Mehrheit der Hochschulabsolventinnen und -absolventen in geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen tätig sei, stünden diese bei den Bundesbeiträgen für Innovation lediglich am Rand. Das Thema sei erkannt, versicherten anwesende Forschungsförderer. «Wir wissen schon lange, dass Innovation soziotechnisch ist», betonte Ola Söderström, Mitglied des Nationalfonds-Forschungsrats. Neue Förderinstrumente brauche es nicht, die bestehenden müssten aber besser kommuniziert werden. «Die Mechanismen existieren», sagte auch Edouard Bugnion, Verwaltungsratsmitglied der Förderagentur Innosuisse. Er verwies unter anderem auf «Bridge», das gemeinsame Sonderprogramm von Innosuisse und Nationalfonds. Dort wird auch kleinere Forschung in Start-ups alimentiert, von der Windenergie bis zur Online-Plattform für Fairtrade-Designerschuhe.

Fazit: Daniel Düsentriebs zündende Ideen braucht es weiterhin. Doch er schafft es nicht allein. Die Zeiten haben sich geändert, seit der helle Gänserich 1952 im Nachkriegsboom im Comic auftauchte und zum popkulturellen Inbegriff des Erfinders wurde. Ein heutiger Düsentrieb setzt sich mit schöpferischen Kräften aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Werteorientierte Innovation braucht ein «Traumteam», ist Christina Taylor von der Creaholic SA überzeugt. Wobei es nicht klug sei, allein auf die Karte der Innovation zu setzen, wie der Historiker Marco Vencato anfügte. Auch Tradition und bewährtes Wissen seien wichtig für das Zusammenleben der Gesellschaft, sagte der Vizedirektor der Gebert-Rüf-Stiftung, einer der grössten privaten Förderstiftungen in der Schweiz.

 

Weitere Stimmen und Statements der Tagung «Die Geistes- und Sozialwissenschaften und die Innovation» finden sich in einer Videodokumentation. Das Roundtable-Gespräch, das am 19. Mai 2020 als Live-Stream online gesendet wurde, wurde ebenfalls aufgezeichnet. Wegen der Corona-Epidemie fand die ganze Tagung im digitalen Raum statt.

 

Bild: Video-Reportage: Den Wandel erschaffen! Forscher und Forscherinnen, Expertinnen und Experten beleuchten ein neues, geistes- und sozialwissenschaftliches Verständnis von Innovation (39 Minuten). Den Wandel erschaffen! Forscher und Forscherinnen, Expertinnen und Experten beleuchten ein neues, geistes- und sozialwissenschaftliches Verständnis von Innovation (39 Minuten).SAGW, https://sagw.ch/sagw/themen/gesellschaftliche-relevanz/innovation/