«Die Teamarbeit, die zur Lösung grosser Herausforderungen erforderlich ist, wird leider oft übersehen»

Susan M. Gasser verlässt den Schweizerischen Wissenschaftsrat nach acht Jahren. Die Biochemikerin sagt, die Schweiz könnte ihr Forschungssystem besser organisieren, um die globalen Herausforderungen anzugehen. Die Kompetenzen sind da, es fehlt die Koordinationsstelle.

Frau Gasser, Sie haben im Wissenschaftsrat am Bericht «Missionsorientierte Forschung und Innovation» mitgearbeitet. Wollen Sie die Schweizer Forschungslandschaft umpflügen?

Nein. Das schweizerische System der Wissenschaftsfinanzierung und -förderung ist ausgezeichnet, darum habe ich meine gesamte Karriere hier verfolgt, wie viele andere Forschende auch. Aber vielleicht wäre es gut, wir hätten ein zusätzliches Koordinations- und Finanzierungsorgan, das mit transdisziplinären Teams die grossen Herausforderungen angehen könnte: den Klimawandel, die Pandemien, die schrumpfende Biodiversität, Abhängigkeit von fossilen Energien, Cybersecurity – um nur die wichtigsten zu nennen. Die Wissenschaften müssen diese Herausforderungen anpacken und technische Lösungen erarbeiten, die ökonomisch anwendbar sind. Die Schweiz besitzt alle Voraussetzungen dafür, darunter die zwei technischen Universitäten in Zürich und Lausanne sowie die vier Anstalten des ETH-Bereichs und unser Fachhochschulsystem.

 

Wie wollen Sie das organisieren?

Das Know-how und die Kapazitäten sind da, jetzt brauchen wir Expertenteams, die sich engagieren. Dies erfordert eine andere Art der Finanzierung als für die Bottom-up-Forschungsprojekte, die meistens von einem einzelnen Labor durchgeführt werden. Ein Vorbild könnten die US-amerikanische Advanced Research Projects Agencies, kurz: ARPA sein. Der Wissenschaftsrat will das heutige System der Schweiz nicht ersetzen, sondern durch ein neues, vom Bund eingesetztes Gremium ergänzen. Wir schlagen vor, dass Innosuisse, die Innovationsagentur des Bundes, ein ARPA-Pilotprojekt lanciert.

 

Heisst das, dass wir zu viel Grundlagenforschung haben und mehr Wissenschaftsbürokratie brauchen?

Nein, wie gesagt, die Schweiz ist für ihre ausgezeichnete Grundlagenforschung bekannt, sie ist der Motor für Innovation und Industrie. Daran wollen wir festhalten. Wir sollten unsere Forschungsergebnisse und das Wissen unserer Expertinnen und Experten umfassend nutzen. Es hat keinen Sinn, Dienstleistungen aus dem Ausland einzukaufen, wenn wir die Expertise schon besitzen, zum Beispiel in Cybersicherheit. Gleichzeitig sollten wir vielleicht unser Belohnungssystem neu überdenken. Wer einen Nobelpreis oder die Fields-Medaille erhält, wird in den Himmel gelobt, aber wer zur Lösung des Energieproblems oder der Wasseraufbereitung beiträgt, wird oft übersehen – vor allem, weil letzteres Teamarbeit erfordert.

 

Susan M. Gasser war während acht Jahren beim SWR, Foto: Alessandro della Valle

Die globalen Probleme haben sich verschärft, wie Sie sagen. Sind ihnen die Wissenschaften gewachsen?

Die Naturwissenschaften haben gewaltige Fortschritte gemacht. Was die Medizin in der Krebsbekämpfung und die Künstliche Intelligenz auf der Basis gigantischer Datenmengen leisten, war noch vor dreissig Jahren fast undenkbar. Heute stehen uns präzise Klimamodelle zur Verfügung, von denen wir früher nur geträumt haben. Jetzt müssen wir darüber nachdenken, wie wir die kompetenten und motivierten Forscherinnen und Forscher zumindest für eine kurze Zeit von der Lehre entlasten können, damit sie gemeinsam an der Lösung der grössten Herausforderungen arbeiten.

 

Sie sind eine bestens vernetzte Wissenschaftlerin. Haben Sie noch genug Zeit, um selber zu forschen?

Ich habe die Arbeit in meinem Labor aufgegeben, weil ich finde, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ab einem gewissen Alter den Jungen Platz machen müssen. Der Nachwuchs soll von den gleichen Möglichkeiten profitieren, die wir hatten. Aber ich habe noch viel zu geben. So betreue ich Doktorarbeiten und unterstütze junge Forschende, auch mit einer Stiftung. Ich bin noch immer nahe an der Wissenschaft dran. Wer einmal Forscherin war, bleibt dies für immer. Was immer ich sehe, lese und denke, tue ich mit dem Geist einer Wissenschaftlerin. Darum forsche ich nun hobbymässig ein bisschen weiter zur Genetik der Weinhefe. Der Klimawandel wirkt sich auch auf den Weinbau aus, und wir finden neue Hefearten, welche die biodynamische Gärung unterstützen. Zu diesem Zweck arbeite ich mit einer Winzerfamilie in Féchy bei Lausanne zusammen.

 

Mögen Sie Wein?

Ja, vor allem gute Schweizer Weine. Ich bin stolzes Ehrenmitglied der Weinbauernzunft, der Confrérie du Guillon.

 

Welche Aspekte Ihrer Arbeit im Wissenschaftsrat werden Sie vermissen?

Die Mitglieder des Rats kommen aus verschiedenen Disziplinen zusammen, um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu diskutieren und ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, welche praktikablen Vorschläge sie der Politik unterbreiten. Zuerst dachte ich: Wie soll das konkret gehen? Jetzt, nach acht Jahren, finde ich, dass es uns gelungen ist. Zuletzt habe ich vorgeschlagen, wie das SBFI und das Bundesamt für Gesundheit gemeinsam anonymisierte Patientendaten speichern könnten, um die medizinische Forschung und Behandlung durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz zu verbessern. Ich hoffe, das Projekt kommt zum Fliegen.

 

Sie sind in den USA aufgewachsen und haben dort studiert, doch ihre Wissenschaftskarriere haben Sie in der Schweiz verfolgt. War Ihnen das Land nie zu klein?

Nein, ich schätze die Schweiz mit ihren vielen Sprachen und Gegensätzen. Im ETH-Rat bringe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen nach wie vor die lateinische und die deutsche Kultur zusammen. Über meinen Mann bin ich vor 45 Jahren sogar Obwaldnerin geworden. Ich habe lange sowohl in der Romandie als auch in der Deutschschweiz gearbeitet und beide Landessprachen gelernt. Nur die Kenntnis des Schweizerdeutschen fehlt mir. Es zu beherrschen, wäre manchmal hilfreich gewesen.

 

 

Susan M. Gasser ist Biochemikerin. Bis 2021 war sie Professorin für Molekularbiologie an der Universität Basel, von 2004 bis 2019 leitete sie das Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research in Basel. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die räumliche Organisation und Struktur des Genoms im Zellkern. Gasser studierte an der Universität Chicago und promovierte 1982 in der Gruppe von Gottfried Schatz am Biozentrum der Universität Basel. Nach einem Postdoktorat an der Universität Genf übernahm sie 1986 die Leitung einer Forschungsgruppe am Schweizerischen Institut für Experimentelle Krebsforschung in Lausanne. 2001 wurde sie als ordentliche Professorin an die Universität Genf berufen. Während neun Jahren war sie für den Schweizerischen Nationalfonds tätig und amtierte als Vizepräsidentin und Präsidentin des Rates der European Molecular Biology Organization (EMBO). Sie gehört mehreren Beratungsausschüssen an, darunter dem ETH-Rat, und ist Direktorin der ISREC-Stiftung für Krebsforschung in Lausanne. Von 2016 bis 2023 war Susan M. Gasser Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats.