Überwindung der sozialen Selektivität

Die Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre und die weiteren bildungsstrukturellen Massnahmen der darauffolgenden Jahrzehnte waren nicht nur eine Folge des allgemeinen Bevölkerungswachstums, sondern es sollten vielmehr auch bisher unzureichend genutzte individuelle Bildungspotentiale besser ausgeschöpft werden: erstens im Hinblick auf den technologischen Fortschritt und das damit verbundene Wirtschaftswachstum sowie zweitens zwecks Abbau sozialer Ungleichheiten beim Zugang zur höheren Bildung und den damit verknüpften Chancen zur Höherqualifizierung sowohl für berufliche Positionen als auch für die Übernahme anspruchsvoller Aufgaben in Politik und Gesellschaft. Beides ist bis heute noch nicht befriedigend gelungen.

Neben der weiterhin bestehenden Notwendigkeit für zukunftsgerichtete curriculare Schulreformen zeigt sich noch immer bedeutender Handlungsbedarf für Massnahmen zum Abbau der sozialen Selektivität unseres Bildungssystems. Denn die aktuelle empirische Forschung weist übereinstimmend darauf hin, dass die sozioökonomische Herkunft und das Bildungsniveau des Elternhauses den Bildungserfolg bei vergleichbarer Begabung massgeblich beeinflussen, die Chancengerechtigkeit im Sinne von gleichen Startchancen für alle also nicht gegeben ist.

Die in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Durchlässigkeit im Bildungssystem ist dazu nicht ausreichend, weshalb der Schweizerische Wissenschaftsrat verschiedene Massnahmen vorschlägt, die insbesondere auch Reformen ausserhalb des formalen Bildungssystems umfassen, vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung. Sie dienen nicht nur der allgemeinen und chancengerechteren Stärkung der individuellen Kompetenzen für berufliche, gesellschaftliche und politische Teilhabe, sondern gleichzeitig der Verbesserung der Effizienz und Effektivität des Bildungssystems. Nicht zuletzt sind sie auch dem Abbau weiterer Ungerechtigkeiten förderlich, wie sie genderbedingt oder aufgrund von Unterschieden zwischen den kantonalen Bildungssystemen auftreten können.

 

 

 

 

Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR für die BFI-Botschaft 2021–2024
Analyse Zielkörper und Handlungsempfehlungen zuhanden des Bundes

https://wissenschaftsrat.ch/images/stories/pdf/de/Empfehlungen-des-SWR-fr-die-BFI-Botschaft-2021-2024.pdf

 

 

3.2.1 Soziale Selektivität

In der Bundesverfassung steht: «Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, […] des Geschlechts, […] der sozialen Stellung […].»42 Dieser Grundsatz muss bei der Gestaltung der Talentförderung, der Auswahlverfahren sowie der Strukturen und Übergänge im Schweizer Bildungssystem stärker berücksichtigt werden. Die Gewährleistung der Chancengleichheit ist eine Querschnittsaufgabe des Schweizer BFI­Systems und betrifft die kantonalen und eidgenössischen Akteure gleichermassen.

In der Schweiz lassen sich die Bildungswege und der Erwerb von Abschlüssen mit hoher Sicherheit anhand weniger Informationen über sozioökonomische Ressourcen und das Bildungsniveau des Elternhauses vorhersagen. Die Chancengleichheit im Sinne von gleichen Startchancen bei der Einschulung ist nicht gegeben. Im Gegenteil: Die Struktur und die institutionellen Regelungen des stratifizierten und segmentierten Bildungssystems reproduzieren bestehende soziale Ungleichheiten. Das Problem der sozialen Selektivität ist für das Schweizer BFI-System besonders bedeutsam, weil es die volle Ausschöpfung des Talent-Pools und des Leistungspotenzials verhindert. Um die Effizienz und Effektivität des Schweizer Bildungssystems zu steigern, sind bildungs- und sozialpolitische Anstrengungen notwendig, welche bestehende soziale Ungleichheiten von Bildungschancen verringern. Diese Massnahmen sind Investitionen in die politische, ökonomische, demografische und kulturelle Zukunft der Schweiz. Ein Bildungssystem mit rein leistungsbasierter statt sozialer Selektivität hilft mit, das reibungslose Funktionieren der gesellschaftlichen Teilbereiche sicherzustellen (Systemintegration). Die Beseitigung der sozialen Selektivität unterstützt nicht nur die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern am gesellschaftlichen Geschehen und bei der Gestaltung ihres Lebens (Sozialintegration), sondern ist auch wirtschaftlich von höchster Bedeutung. Das Schweizer Bildungssystem ist derzeit nicht in der Lage, die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften zu befriedigen. Um die Abhängigkeit von Rekrutierungen im Ausland zu vermindern und den technologischen Wandel und die Tertiarisierung der Berufsfelder und Wirtschaftsbranchen zu bewältigen, muss der Schweizer Talent-Pool besser genutzt werden – und dazu muss die soziale Selektivität beseitigt werden. Der SWR hat in der Vergangenheit bereits mehrfach auf dieses Problem hingewiesen. Der Rat ist noch immer besorgt darüber, dass keine ausreichenden Massnahmen ergriffen worden sind. Gestützt auf überzeugende empirische Daten, die die negativen Auswirkungen der sozialen Selektivität belegen, fordert er dringend dazu auf, dieses Thema stärker zu berücksichtigen. So sollen zweckmässige Massnahmen ergriffen werden, um die Chancengleichheit im schweizerischen Bildungssystem auf allen Ebenen zu gewährleisten. Wohl verfügt die Schweiz über ein diverses und durchlässiges Bildungssystem. Auch anerkennt der SWR die wichtige Rolle der dualen Bildung und den damit verbundenen Effekt der vergleichsweise geringen Lohnunterschiede zwischen Personen mit (höheren) Berufsbildungs- und solchen mit Hochschulabschlüssen. Dieser Umstand lässt jedoch keine Aussage bezüglich der Chancengerechtigkeit bei den Übergängen im Bildungssystem zu und darf deshalb keineswegs mit ihr gleichgesetzt werden. Gleichzeitig soll eine Reduktion der sozialen Selektivität nicht zu einer «Akademisierung» der Schweizer Bildungslandschaft führen, sondern eine gerechte Chancenverteilung bei Übertritten im Bildungssystem unabhängig von Herkunft und sozioökonomischem Status des Elternhauses garantieren. Institutionelle Massnahmen hinsichtlich der Chancengleichheit liegen in der Verantwortung der Kantone. Unter Anerkennung deren Diversität müssen regionale Unterschiede bei der Gestaltung dieser Massnahmen nicht zwingend ein Nachteil sein, solange die bundesweite Vielfalt von einem gegenseitigen Lernprozess profitiert.

 

Handlungsempfehlungen43

Das programmatische Ziel der Chancengleichheit im Rahmen der bevorstehenden BFI-Botschaft soll bekräftigt und die soziale Selektivität zu einer Herausforderung erklärt werden. Dies kann Massnahmen in den Bereichen der Sprachförderung und Ausbildung und Sensibilisierung von Lehrpersonen umfassen. Auch sollten unterstützende Massnahmen zur Gewährleistung und systematischen Überprüfung der Chancengleichheit an den Übergängen und bei den Auswahlverfahren im Schweizer Bildungssystem in Betracht gezogen werden.

Angesichts der kumulativen Auswirkungen der sozialen Selektivität an den Übergängen innerhalb des Bildungssystems sind gleiche Chancen schon vor dem Eintritt in dieses System entscheidend, um den Schweizer Talent-Pool tatsächlich nutzen zu können. Die strategische Unterstützung der frühkindlichen Förderung sollte deshalb Teil der nächsten BFI-Botschaft sein.

Die Vernetzung und der Austausch zwischen den unterschiedlichen regionalen Initiativen in den Bereichen der sozialen Selektivität sollten gezielt gefördert und angeregt werden. Der Nutzen einer solchen Vernetzung sollte durch eine entsprechende Begleitforschung der Initiativen verstärkt werden.

 

 

42 Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101).

43 Schweizerischer Wissenschaftsrat (2018), Soziale Selektivität, Politische Analyse 3/2018, Bern: SWR, verfügbar unter: https://www.wissenschaftsrat.ch/images/stories/pdf/de/Politische_Analyse_SWR_3_2018_SozialeSelektivitaet_WEB.pdf